Ein Hinweisschild auf dem die AHA-Regeln (Abstand+Hygiene+Alltagsmasken) stehen.
Kommentar

Corona-Politik Das nächste Desaster?

Stand: 28.10.2021 11:50 Uhr

Steigende Zahlen an Infektionen und Covid19-Patienten in Kliniken, eine zu niedrige Impfquote, keine Kampagne für Booster: Deutschland stolpert in den nächsten Corona-Winter, meint Patrick Gensing. Es droht erneut ein Desaster.

Ein Kommentar von Patrick Gensing, ARD-aktuell

Deutschland stolpert in den nächsten Corona-Winter - und wieder droht es finster zu werden. Obwohl mehr als genug Impfstoff geliefert wurde, obwohl man aus Fehlern lernen wollte, obwohl das Land eigentlich die besten Möglichkeiten hat, mit dem Virus fertig zu werden.

Doch statt - wie beispielsweise in Dänemark - eine stringente und weitsichtige Strategie zu entwickeln und die klar und deutlich zu kommunizieren, geht die Kakophonie weiter. Im Angesicht des anstehenden Winters, deutlich steigender Infektionszahlen sowie Warnungen vor den Folgen für Krankenhäuser werden derzeit verschiedene Lockerungen diskutiert. Ausgerechnet die Gruppe, die derzeit die höchsten Inzidenzen aufweist und die noch komplett ungeimpft ist, soll vielleicht keine Masken mehr tragen: Kinder in den Schulen nämlich. Schulen, von denen mittlerweile immerhin viele mit Luftfiltern ausgerüstet sind.

Nun ist glücklicherweise dokumentiert, dass Kinder deutlich seltener schwer an Covid19 erkranken als Erwachsene, von daher ließe sich durchaus die Position vertreten, sie sollten keinen Beschränkungen unterliegen und eine "Durchseuchung" sei nach einer Abwägung der vorliegenden Fakten vertretbar - aber so klar will das offenkundig niemand aussprechen. Stattdessen können die Bürgerinnen und Bürger aus dem vielstimmigen Chor der Vorschläge und Vorhaben versuchen, schlau zu werden. Einige Bundesländer streben diese Lösung an, andere wiederum eine andere - ein klarer Kurs ist nicht zu erkennen. Dass das Eltern weiter verunsichert, liegt auf der Hand.

Impfkampagne beendet?

Mit einer hohen Impfquote wären die Jüngsten übrigens am besten vor Infektionen geschützt. Doch seit Beginn der Pandemie blühen die wildesten Spekulationen und Verschwörungslegenden. Dazu kommen Unsicherheiten und Sorgen, die mit irreführenden Geschichten über angebliche "Impfmassaker" und schwerste Nebenwirkungen gezielt geschürt werden. Solche Kampagnen zur Desinformation haben in der Pandemie eine neue Dimension erreicht, sind aber alles andere als neu - daher wäre es eine der wichtigsten Aufgaben gewesen, eine wirksame Strategie dagegen zu entwickeln.

Die Aussagen von Fußballer Joshua Kimmich zeigen, wie sehr es bei der Aufklärung über die Impfungen hapert und unbelegte Behauptungen auch bei Menschen, die keine generellen Impfgegner sind, verfangen: Dass Impfungen zwar sehr selten Spätfolgen auslösen können, diese aber nicht erst später plötzlich auftreten, betonen Fachleute seit vielen Monaten. In der großen Öffentlichkeit taucht diese Erkenntnis erst jetzt auf.

Frage des Impfens gezielt politisiert

Die Impfskepsis verfestigt sich offenkundig sogar - obwohl in den Kliniken die allermeisten Covid19-Patienten nicht dort sein müssten, hätten sie sich impfen lassen. Obwohl Menschen in anderen Ländern glücklich wären, freien Zugang zum Impfstoff zu haben, um sich und andere zu schützen. Obwohl europäische Staaten bittere Erfahrungen machten mussten mit überlasteten Kliniken und katastrophalen Konsequenzen. In Deutschland haben Demagogen die Frage nach dem Impfstatus zu einer Schicksalsfrage aufgeladen und gezielt verbunden mit politischem Fanatismus sowie kruden Thesen über eine Diktatur, die hier herrsche.

Die Fronten sind so verhärtet, dass viele Skeptiker und Gegner offenkundig noch skeptischer und radikaler in ihrer Gegnerschaft werden. Mehr Druck wirkt offenkundig kontraproduktiv - ein vernünftiges Gespräch erscheint kaum noch möglich.

Keine Dringlichkeit bei Booster-Impfungen?

Zu wenige Menschen sind also geimpft - mutmaßlich, denn ganz genaue Zahlen liegen wohl gar nicht vor; und es ist bereits absehbar, dass viele Millionen bald einen Booster bekommen sollten. Schon seit Wochen steigt die Zahl von Impfdurchbrüchen, wieder sind insbesondere die Ältesten am meisten gefährdet - aber nicht ausschließlich, auch mittelalte Menschen könnten bald nur noch über einen abgeschwächten Impfschutz verfügen.

Daten unter anderem aus Israel zur Effektivität der Booster-Impfungen liegen auf dem Tisch, doch die Verantwortlichen in Deutschland fangen erst langsam an, die Über-70-Jährigen etwas eindringlicher aufzurufen, sich erneut impfen zu lassen. Die STIKO will wieder besonders genau prüfen, und man hat einmal mehr das Gefühl, es bestehe überhaupt keine besondere Dringlichkeit, eine neue Impfkampagne anzugehen. Dass die funktionierende Infrastruktur von Impfzentren und kostenlosen Testungen mittlerweile wieder verschwunden ist, stattdessen dubiose Online-Anbieter mit Negativ-Bescheinigungen Geld verdienen und Impfnachweise gefälscht werden, dass die Probleme in der Pflege eher noch größer geworden sind, rundet das Gesamtbild ab.

Nichts aus den Fehlern gelernt?

Bereits im vergangenen Herbst hatten Bund und Länder viel zu lange gezögert, effektive Schutzmaßnahmen gegen die zweite Welle einzuleiten. Erst als die Zahlen immer weiter gestiegen waren, handelten die Verantwortlichen - zu spät. Die Konsequenzen waren monatelange massive Einschränkungen der Grundrechte - einige ohne jeden wissenschaftlichen Beleg - und Zehntausende Covid19-Todesopfer.

Genau ein Jahr später ist die Bundespolitik wegen des Regierungswechsels quasi lahmgelegt, die Länder fahren eigene Strategien und es könnte wieder erst gehandelt werden, wenn es eigentlich zu spät ist. Obwohl mehr als genug Impfstoff vorhanden ist, droht das nächste Desaster.

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