Iryna Korystina steht im zerstörten Heimatmuseum von Kupjansk.
weltspiegel

Krieg gegen die Ukraine Ist der russische Angriffskrieg ein Genozid?

Stand: 16.07.2023 16:10 Uhr

Angriffe auf Wohnhäuser, Folter, Tote in Massengräbern - die Liste russischer Gräueltaten ist lang. Russland spricht der Ukraine das Existenzrecht ab. Doch Völkermord nachzuweisen, sei komplex, sagen Juristen.

Von Vassili Golod, ARD Kiew, und Kateryna Rusetska, ARD Kiew

Kupjansk, im Osten der Ukraine, wenige Kilometer von der Front entfernt. Vor fast eineinhalb Jahren marschierten russische Soldaten in die Stadt ein. Bis September 2022 übernahmen sie die Kontrolle - auch über die Schulen.

Seit ukrainische Soldaten die Kleinstadt nach einem halben Jahr Besatzung befreit haben, ist Oleksandr Pischyk Direktor am Gymnasium Nr. 2. Seine Vorgängerin kollaborierte mit Russland und ist jetzt auf der Flucht. Er zeigt auf einen Haufen russischer Schulbücher im Eingangsbereich und schlägt eines davon auf. "Da steht es: 2022. Das sind also frische Lehrbücher, die gerade erst gedruckt wurden", sagt Pischyk. "Speziell für die Einführung der russischen Standards in den besetzten Gebieten."

Es sind Bücher, die erahnen lassen, was geplant war: Die Säuberung der Schule von ukrainischer Sprache, Geschichte und Kultur. Seit Kupjansk im Herbst befreit wurde, versucht Russland, die Stadt zu zerstören. Aus der Ferne ist immer wieder Artilleriebeschuss zu hören. Pischyk leitet eine Schule ohne Schüler. Viele sind mit ihren Eltern geflüchtet, unterrichtet wird online.

Schulleiter Pischyk: "Das nennt man Genozid"

Pischyk war als Geschichtslehrer während der Besatzung arbeitslos, weil er sich weigerte, nach russischem Lehrplan zu unterrichten. Jetzt arbeitet er diese Zeit auf, sammelt Belege, um die Verbrechen zu dokumentieren. Dazu zählen Schulzeugnisse, auf denen das ukrainische Wappen einfach durch das Staatswappen Russlands ersetzt wurde.

"Es zieht sich ein roter Faden durch: Dass die Ukraine als solche nicht existiert, nicht existiert hat und nicht existieren sollte", sagt der Schulleiter. "Hier, in diesen Lehrbüchern, wird gesagt, dass es kein ukrainisches Volk gibt, sondern nur ein gemeinsames russisches Volk." Den Ukrainern würde damit das Recht auf Selbstbestimmung, auf ihre Geschichte, auf ihre Kultur und auf ihre Sprache komplett genommen.

Auf dieser Grundlage erhebt Pischyk einen massiven Vorwurf, der in der Ukraine immer wieder zu hören ist: "Ist Mord normal? Ist die Zerstörung von Kultur normal? Ist die Zerstörung von Bildung normal? Wie man das nennt? Das nennt man Genozid."

Oleksandr Pischyk steht vor Schulbüchern und wird interviewt.

Pischyk (links) durfte während der russischen Besatzung nicht arbeiten.

Russland spricht Ukraine Existenzrecht ab

Juristisch gekennzeichnet ist Genozid durch die gezielte Absicht, eine Gruppe - national, ethnisch oder religiös - ganz oder teilweise zu zerstören. Doch der juristische Nachweis ist komplex: Völkermord gilt als "Verbrechen aller Verbrechen".

Die Aggression und Kriegsführung Russlands gegen Zivilisten sehen viele in der Ukraine als Mittel zu einem übergeordneten Zweck: der Ausbreitung der "Russki Mir", der russischen Welt als Einflusssphäre. Russland spricht der Ukraine - entgegen aller Fakten - die Existenz ab und versucht das mithilfe staatlicher Propaganda zu belegen.

Erst kürzlich verbreitete der russische Präsident Wladimir Putin zum wiederholten Mal das Narrativ, die sowjetische Führung hätte die sowjetische Ukraine erschaffen. "Vorher gab es in der Menschheitsgeschichte keine Ukraine", behauptete Putin im Staatsfernsehen. Diese Äußerung hat System. Putin stellt die Ukraine als Staat, ihre Landesgrenzen, Identität und Geschichte in Frage und propagiert die Einheit alles "Russischen".

Moderator rief zur Tötung ukrainischer Kinder auf

In den Staatsmedien werden atomare Schläge herbeigesehnt, Angriffe auf Zivilisten und Politiker gefordert. Der Ton in den russischen Talkshows ist hasserfüllt und aggressiv. Ein Moderator rief sogar dazu auf, ukrainische Kinder zu töten. "Man sollte solche Kinder direkt im Fluss ertränken. Diese Kinder gehören ertränkt", sagte Anton Krassowski. "Sobald einer sagt: 'Die Russen haben uns besetzt', wirft man ihn sofort in den Fluss, in eine heftige, reißende Strömung."

Dafür gab es zwar selbst in Russland Kritik, aber keine juristischen Konsequenzen. Wenn es gegen die Ukraine geht, scheint es in Moskau keine roten Linien zu geben.

"Sie vernichten unsere Kultur"

In Kupjansk empfinden sie bei diesen Worten Wut. Im Frühjahr traf eine russische Rakete das Heimatmuseum der Stadt, eine zivile Kultureinrichtung. An diesem Tag arbeitete Iryna Korystina dort. "Ich stand hier bis zum letzten Moment. Bis unsere Direktorin rausgeholt wurde", berichtet sie. Weil ihre Chefin bei dem Angriff getötet wurde, leitet sie heute übergangsweise das Museum. "Es ist schrecklich. Ich bin um 8:40 Uhr gekommen, um sie zu begrüßen. Und um 9:05 Uhr gab es sie nicht mehr. Ich kann es immer noch nicht fassen: Da war ein Mensch, und jetzt gibt es ihn nicht mehr." Korystina wurde im russischen Belgorod geboren, ganz in der Nähe. Sie spricht Russisch, hat Familie in Russland.

Seit Beginn des Angriffskriegs wurden in der Ukraine mehr als 1500 Kultureinrichtungen zerstört, viele weitere geplündert. "Wir glauben, dass es gezielt ist", sagt Korystina. "Sie vernichten unsere Kultur, sie vernichten unser Volk." In Kupjansk und anderen ukrainischen Städten sind sie von der russischen Absicht, die ukrainische Kultur auszulöschen, überzeugt.

Die Decke und Wand eines Zimmers sind zerstört.

Eine russische Rakete richtete im Heimatmuseum von Kupjansk schwere Zerstörungen an.

Juristen sehen "Anzeichen eines Völkermordes"

In Charkiw hat es sich Mykola Komarovskyj zur Aufgabe gemacht, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Er ist Teil der ukrainischen Helsinki-Gruppe - einer Menschenrechtsorganisation, die russische Kriegsverbrechen dokumentiert. Sie sammeln auch Belege für den Straftatbestand Genozid. "Wir können sagen, dass bestimmte Handlungen der Russischen Föderation Anzeichen eines Völkermordes aufweisen", erklärt Mykola.

In Butscha und an anderen Orten des Landes seien Menschen von russischen Soldaten getötet worden, nur weil sie Ukrainer gewesen seien. "Ein anderes Beispiel sind die Stromausfälle im Winter, bei denen auch viele Kinder im Dunkeln saßen", sagt der Menschenrechtler und bezieht sich auf russische Angriffe auf die kritische Infrastruktur der Ukraine. "Es geht also auch um die Schaffung bestimmter Bedingungen, die die Entwicklung einer bestimmten Gruppe und ihr Überleben behindern."

Hohe Anforderungen an genozidale Absicht

Raketenangriffe auf Wohnhäuser, Folter, ermordete Zivilisten in Massengräbern - das sind nur einige Beispiele der russischen Gräueltaten im Angriffskrieg gegen die Ukraine. Doch der Genozid-Vorwurf wiegt schwer. Und deswegen ist auch der juristische Nachweis des Völkermordes so schwierig. 

"Viel des Grauens, was wir in der Ukraine sehen, kann bereits geahndet werden, basierend auf den anderen Tatbeständen als Kriegsverbrechen, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit”, erklärt die Völkerrechtlerin Paulina Starski von der Uni Freiburg. "Und die Hürden, dies nachzuweisen, sind geringer als bei diesem sehr schwerwiegenden Delikt des Völkermordes. Dieses Verbrechen aller Verbrechen, das diese sehr hohe Anforderung an eine genozidale Absicht beinhaltet."

Parlamente kritisieren Russland

Mehrere Parlamente unter anderem in der Ukraine, Litauen, Kanada und Irland haben das russische Vorgehen als "Völkermord" eingestuft.

Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag erließ wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen in der Ukraine Haftbefehl gegen Putin. Er sei mutmaßlich verantwortlich für die Deportation ukrainischer Kinder aus besetzten Gebieten nach Russland. "Wenn wir uns das anschauen, mehren sich in der Tat Indizien, die es als legitim erscheinen lassen, den Völkermord-Vorwurf näher zu untersuchen", sagt Starski. "Wenn wir beispielsweise anknüpfen an die Deportation von Kindern, also die Überführung von Kindern aus einer Gruppe in eine andere. Das ist in der Tat eine objektive Tathandlung des Völkermordes."

Genozid-Vorwurf wird geprüft

Ein investigatives Team der EU-Justizagentur Eurojust geht dem Genozid-Vorwurf nach. Juristen rechnen mit einem langwierigen und aufwändigen Prozess.

In Kupjansk müssen die Menschen mit dem Trauma der russischen Besatzung und ständigem Beschuss leben. Sie wollen, dass die Verantwortlichen für ihre Verbrechen so schnell wie möglich zur Rechenschaft gezogen werden.

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