Ricarda Lang und Omid Nouripour in Karlsruhe vor Beginn des Parteitags der Bündnis 90/Die Grünen
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Grüner Neustart "Pessimisten gewinnen keine Wahlen"

Stand: 18.07.2024 10:53 Uhr

Bei der Europawahl im Juni haben die Grünen mit Abstand die meisten Stimmen verloren. Auch die Umfragen für kommende Wahlen geben ihnen wenig Grund zum Optimismus. Die Partei will daraus Lehren ziehen. Nur welche?

Eine Analyse von Tina Handel, ARD-Hauptstadtstudio

Der Redebedarf scheint groß bei den Grünen: Rund 1.500 Mitglieder haben sich am Mittwochabend in eine Videoschalte mit den Parteichefs eingewählt. Das Ziel war es, endlich Lehren aus dem schlechten Abschneiden bei der Europawahl zu ziehen.

Das Ganze ist zunächst eher ein Vortrag, 25 Minuten lang: Ricarda Lang und Omid Nouripour stehen vor einer dunkelgrünen Wand, ein bisschen erinnert die Atmosphäre an ein Telekolleg. Die beiden halten abwechselnd ein Tablet mit Kernsätzen hoch. "Webinar" heißt dieses Format, das die Grünen inzwischen öfter mit ihrer Basis machen. Acht Schlussfolgerungen stellen sie vor, die die Partei wieder aus dem Umfragetief holen sollen.

Vieles bleibt eher unkonkret: "Die Menschen haben berechtigte Sorgen - und das Gefühl, dass wir an diesen vorbeireden", das ist eine der Lehren. "Pessimisten gewinnen keine Wahlen", lautet eine weitere.

"Erreichen nicht mehr die Herzen der Menschen"

Spannender wird es, wenn es um den Kurs der Partei geht. Denn bei der Europawahl haben die Grünen in beide Richtungen verloren: Mehr als 500.000 Wähler sind zur Union gewandert, so steht es in einer ARD-Analyse von infratest dimap. Zugleich haben gerade junge Wähler ihre Stimme eher der Kleinstpartei Volt gegeben, die mit grünen Kernthemen warb. Hunderttausende, womöglich von zu vielen Kompromissen enttäuschte Grünen-Anhänger sind nicht mehr zur Wahl gegangen.

Wen versucht man nun zurückzuholen? Stammwähler oder eher das bürgerliche Milieu? Die Debatte brodelt seit Wochen in der Partei. Kurz vor dem angekündigten Onlineforum hatte sich das linke Lager noch einmal lautstark zu Wort gemeldet: Für "weniger Inhalte und mehr Mainstream" bekomme man nicht mehr Stimmen, mahnte Werner Graf, grüner Fraktionschef im Berliner Abgeordnetenhaus. Er kritisierte die Strategie der Bundespartei: "Wir erreichen nicht mehr die Herzen der Menschen."

Bild: Wählerwanderung, Europawahl 2024 | Für Partei Grüne | Grüne/FDP -30000 | Grüne/Linke -40000 | Grüne/AfD -50000 | SPD / Grüne +80000 | Grüne/BSW -150000 | Grüne/Nichtwähler -540000 | Grüne/Union -560000 | Infratest-dimap. 10.06.2024, 02:06 Uhr

Werben in zwei Richtungen

Über Robert Habeck, den wahrscheinlichen Spitzenkandidaten, heißt es dagegen in Parteikreisen, er werbe sehr dafür, den Kurs zu öffnen und Milieus außerhalb der Kernwähler anzusprechen. Der Anspruch der Partei müsse sein, sich nicht in eine linke Öko-Nische zurückzuziehen.

Wofür plädieren nun die Parteichefs? Sie wollen den Spagat wagen, in beide Richtungen werben. Denn sonst könnten die Stimmanteile einfach nicht für Regierungsbündnisse reichen. "Wenn wir Mehrheiten organisieren wollen, können wir uns kein Entweder-Oder leisten", steht im neuen Strategiepapier.

Experiment für die Bundestagswahl

Für das nächste Bundestagswahlprogramm kündigt die Parteispitze nun ein kleines Experiment an: Man wolle "mehr Bürgerbeteiligung" wagen, sagt Ricarda Lang. Wie und in welchen Formaten sich alle - auch Nicht-Mitglieder - am grünen Wahlprogramm beteiligen können, prüfe man derzeit.

Es ist eine Idee mit vielen Fragezeichen: Wie sehr lässt man wirklich Nicht-Grüne mitreden? Und wie finden das die Parteimitglieder? Bis zum Frühjahr wollen sich die Grünen Zeit lassen, um dann auf einem Parteitag das Programm zu beschließen.

Zuhören allein ist noch keine Politik

"Weniger Sollen und Müssen" könne ein Motto für die künftige Bürgeransprache sein, fasst Nouripour die Lehren aus der Europawahl zusammen. Man brauche mehr Feedback, den "Realitätscheck" von außen, ergänzt Lang. Die beiden reden viel übers Zuhören an diesem Abend. Nur ist Zuhören allein noch keine Politik.

Der Parteibasis kann man bei diesem Onlineforum jedenfalls nicht direkt zuhören. Fragen sind nur schriftlich möglich - und werden vorab von den Organisatoren geordnet und gebündelt. So ergibt sich kaum ein Bild von der Stimmung in den Kreisverbänden. Ein wenig kann man die Ratlosigkeit anhand der Nachfragen erahnen.

Zwei Mitglieder wollen wissen: "Wie nehmen wir das Gefühl der Menschen, dass es beim Thema Migration einen Kontrollverlust gibt, ernst?" Und wie bleibe man zugleich der eigenen Haltung treu? Da ist er sofort wieder, der grüne Spagat, der schwierig werden dürfte.

Teilnehmer schildern auch, dass es zunehmend Gewalt im Wahlkampf gebe und es schwieriger werde, Freiwillige zu mobilisieren. Sie machen sich Sorgen, weil die Grünen im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine als "Kriegstreiber" bezeichnet werden, oder andere fürchten, dass sie "in der Koalition nichts mehr auf die Reihe kriegen".

Nicht auf "Grünen-Bashing" reagieren

Die Antworten der Parteivorsitzenden bleiben oft im Ungefähren. Womöglich ist deshalb für all die Anwürfe, die derzeit gegen Grüne erhoben werden, ein eigener allgemeingültiger Lehrsatz vom Spitzenduo erdacht worden.

Er lautet: "Wir beschäftigen uns erst mit den eigenen Stärken und dann mit Negative Campaigning der anderen über uns." Nicht auf das Grünen-Bashing der Gegner reagieren - das dürfte in den Ost-Wahlkämpfen der kommenden Wochen eine Herausforderung werden.

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