Drei Kampfjets vom Typ F16 aus den USA

Zwölf Tage "Air Defender" Was das Luftwaffen-Manöver für Deutschland bedeutet

Stand: 07.06.2023 16:05 Uhr

Mehr als 10.000 Soldaten, 250 Flugzeuge aus 25 Staaten: In wenigen Tagen beginnt das größte Luftwaffen-Manöver in der Geschichte der NATO. In Deutschland wird es deutlich zu spüren sein. Wie deutlich, ist umstritten.

Von Stephan Stuchlik, ARD Berlin

"Nee, hier im Ort wird kaum jemand davon überrascht sein." Jörg Meier, der Bürgermeister der 1000-Seelen-Gemeinde Jagel in Schleswig-Holstein klingt beim Telefonat mit dem ARD-Hauptstadtstudio ganz entspannt. "Und die wenigen bei uns, die keine Lokalpresse lesen, werden es spätestens am Montag hören - das wird ja dann doch einen etwas größeren Flugbetrieb geben."

Etwas größer ist, vorsichtig gesagt, stark untertrieben. Der Luftwaffenstützpunkt Jagel gleich nebenan wird ab dem 12. Juni ein Hauptdrehkreuz für die größte Luftverlegeübung seit Bestehen der NATO sein. 25 Nationen nehmen teil, 250 Flugzeuge und Helikopter werden beteiligt sein, davon über 100 Luftfahrtzeuge der US National Guard.  

"Wir sind in der Führungsrolle"

"Das zeigt eindrucksvoll die Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses", sagt der Inspekteur der Luftwaffe, Ingo Gerhartz, heute bei der Vorstellung der Übung. Er betont die besondere deutsche Verantwortung: "Wir sind in der Führungsrolle und das ist genau das, was mir die Partner immer wieder sagen: Geht ihr doch mal, macht ihr doch mal, gerade mit eurer Position in Europa."  

Das Interesse an dieser Mammut-Luftübung und damit auch die Zahl der teilnehmenden Nationen ist innerhalb des vergangenen Jahres unter den NATO-Staaten stark gewachsen. Zeltlager und Containerdörfer wurden rund um deutsche Luftwaffenstützpunkte für Soldatinnen und Soldaten nicht nur europäischer Partner aus dem Boden gestampft.  

Ingo Gerhartz

Der Inspekteur der Luftwaffe Gerhartz bei der Vorstellung der Übung.

Szenario erscheint heute realistischer

2018, als das Manöver von der US Air Force und der Luftwaffe entworfen wurde, war der russische Angriffskrieg auf die Ukraine für viele noch schwer vorstellbar. Seitdem aber scheint das Übungsszenario auch vielen europäischen Partnern zunehmend realistisch: Ein Truppenverband aus einem östlichen Militärbündnis sei zusammen mit Spezialkräften in Deutschland eingedrungen und halte nun den Osten Deutschlands besetzt, so heißt es in der Ausgangsbeschreibung der Bundeswehr. Energielieferungen seien verknappt worden, Desinformationskampagnen liefen auf deutschem Boden. Deutschland habe den Bündnisfall nach Artikel 5 ausgerufen, jetzt gehe es um die Lufthoheit über deutschem Boden.

Karte Luftwaffenmanöver "Air Defender 23"

An der NATO-Luftstreitkräfteübung "Air Defender 23" nehmen 25 Staaten (grün; USA und Japan nicht im Bild) teil. Das Manöver findet vor allem in drei Lufträumen (schraffiert) statt. Außerdem gibt es Flüge zur NATO-Ostgrenze.

Die Übung sei, wie der Name "Air Defender" zeige, rein defensiv, betonen alle beteiligten Nationen. Auch wenn das Übungsszenario anderes nahelege, richte es sich ausdrücklich nicht gegen Russland.

Amy Gutmann, die US-Botschafterin in Deutschland, deutet aber diplomatisch an, dass man die veränderte Lage in Europa nach dem Beginn des Angriffskrieges von Russland gegen die Ukraine beim Manöver berücksichtige: "Wirkliche Sicherheit gibt es nur, wenn man Kriege verhindert, und man kann nur hoffen, einen Krieg zu verhindern, wenn man ausreichend vorbereitet ist. Das ist ein Zitat eines US-Generals von 1951, aber diese wichtige Idee ist heute noch wahrer als damals." 

Großteil des deutschen Luftraums betroffen

Die Großübung wird einen Großteil des deutschen Luftraums betreffen: Neben Jagel und Hohn in Schleswig-Holstein werden die Militärflugzeuge von Wunstorf (Niedersachsen), Spangdahlem (Rheinland-Pfalz) und Lechfeld (Bayern) starten. Volkel in den Niederlanden und Caslav in der tschechischen Republik sind die weiteren Stützpunkte jenseits der Grenzen.  

Die übenden Nationen seien bemüht, die Belastungen für die Bevölkerung in Deutschland während der zwei Wochen vom 12. bis 23. Juni gering zu halten, sagt die Bundeswehr, und präsentiert ein Zeitkonzept: Im Übungsraum Ost, der die Ostsee, Mecklenburg-Vorpommern und Teile Sachsens betrifft, werde zwischen 10 und 14 Uhr geübt, im Übungsraum Süd (vor allem Baden-Württemberg und Bayern) zwischen 13 und 17 Uhr und im Übungsraum Nord zwischen 16 und 20 Uhr, das ist der Luftraum über der Nordsee, Schleswig-Holstein und Niedersachsen. Nachts und am Wochenende fänden keine Übungsflüge statt. 

Massenweise Proteste von Bürgern wegen Ruhestörung oder gar Demonstrationen gegen das Manöver wie zu Zeiten des Kalten Kriegs erwartet im Bundesverteidigungsministerium in Berlin daher niemand. Dabei dürften der Lärm der Tornados, Eurofighter, F-15, F-16, A10 und was die Allianz sonst noch in die Luft befördert, das geringste Problem sein. Auch über die Umweltbelastung durch Millionen Liter Kerosin oder sonstige Treibstoffe zerbricht man sich im Moment weniger den Kopf. 

Gewerkschaft rechnet mit massiven Flugverspätungen

Aber solch eine Übung durchzuführen, inklusive Luftbetankungen und militärischer Abfangübungen sowie Tiefflugmanövern, ohne den zivilen Luftverkehr in der Bundesrepublik zu treffen, hält zumindest die Gewerkschaft der Flugsicherung für unmöglich. Sie spricht von "50.000 Minuten Verspätung jeden Tag", die das Manöver verursache.

"Deutschland wird zum Flaschenhals der europäischen Luftfahrt", sagt der Vorsitzende Matthias Maas gegenüber dem ARD-Hauptstadtstudio. "Es ist utopisch zu glauben, man könne über Zentraleuropa üben und der reguläre Luftverkehr läuft einfach so weiter. Das Verteidigungsministerium aber hat am Anfang noch versucht, Airlines und Passagieren genau das zu versprechen. Nein, so ein Manöver beinhaltet einfach zu viel Unwägbarkeiten, als dass man das behaupten kann."  

Prinzipiell unterstützten die organisierten Fluglotsen die Luftverlegeübung. Man wünsche sich aber ein bisschen mehr Realismus von den Verantwortlichen, so Maas.  

Das Verteidigungsministerium in Berlin verweist auf Simulationen durch Eurocontrol, die ergeben hätten, dass während des Manövers mit "keinerlei Flugausfällen" zu rechnen sei, "höchstens mit Verzögerungen".

"Das wird man bei uns schon spüren"

Ob sich das Szenario so bewahrheitet, wird man bereits nächste Woche sehen können, wenn ab Montag schon einmal der Luftraum über Mecklenburg-Vorpommern und der Ostsee zeitweise auf allen Höhen für die zivile Luftfahrt gesperrt wird. 

Viele Verantwortliche in Berlin werden sich da die Haltung des Jageler Bürgermeisters Meier wünschen: "Niemand kann behaupten, dass das ab Montag Normalbetrieb in der Luft sein wird. Das wird man bei uns schon spüren. Aber: Zum einen dauert das Manöver nur zwölf Tage und zum anderen halte ich das weltpolitisch einfach für notwendig."