Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland in Hannover

Sexualisierte Gewalt in der Kirche "Jeder Fall ist einer zu viel"

Stand: 10.12.2023 09:03 Uhr

Lange Zeit stand die Evangelische Kirche bei der Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt im Schatten der Katholiken. Aber auch dort gibt es Fälle. Opferverbände sagen: Reformen kommen nur langsam voran.

Von Paul Jens, SWR

Im Januar könnten schwierige Zeiten für die Evangelische Kirche (EKD) anbrechen. Denn dann stellt ein unabhängiger Forschungsverband eine Studie zu sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche vor.

"Noch gibt es dazu keine Zahlen, aber ich bin davon überzeugt, dass wir bei den Missbrauchsvorwürfen nicht allzu weit weg sind von der katholischen Kirche", glaubt Detlev Zander. Er ist Sprecher des Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt der Evangelischen Kirche, das 2022 ins Leben gerufen wurde. Eine EKD-Sprecherin wollte sich auf Anfrage von tagesschau.de nicht zu der Einschätzung äußern und verwies lediglich auf die erscheinende Studie.

Sexualisierte Gewalt wurde kleingeredet

Dass das Forum bei Fragen sexualisierter Gewalt mitentscheiden könne, sei ein großer Fortschritt, meint Zander. Doch bei den individuellen Fällen vor Ort gebe es noch viel Nachholbedarf: "Die Evangelische Kirche hat oft gesagt: Bei uns ist es nicht so schlimm, wir haben andere Strukturen und kein Zölibat. Aber in den evangelischen Heimen und Pfarrhäusern gibt es so gut wie keine Strukturen, die solche Fälle aufdecken könnten oder verhindern könnten."

Detlev Zander wurde als Kind in einem solchen Kinderheim missbraucht. In der Brüdergemeinde Korntal bei Stuttgart wurde er von mehreren Tätern vergewaltigt, geschlagen und erniedrigt. Jahrelang habe die Evangelische Kirche seine Leidensgeschichte abgetan und ihn als Lügner beschimpft. Erst als er an die Öffentlichkeit ging, habe sich die Kirche um Aufklärung bemüht.

80 Täter und Täterinnen wurden daraufhin ermittelt. 140 Opfer meldeten sich. Darunter Angelika Bandle. Auch sie hat jahrelang sexualisierte Gewalt erfahren. Erst im Kinderheim der evangelischen Brüdergemeinde Korntal, später in einer pietistischen Pflegefamilie. Obwohl es eine Verbindung zwischen der Landeskirche und der Diakonie in Korntal gebe, habe die Kirche ihre Verantwortung für die Fälle bis heute stets zurückgewiesen. "Meine persönliche Meinung ist, dass die Evangelische Kirche bis heute kein ernsthaftes Interesse an einer Aufarbeitung hat. Damit würden sie nur sich selbst und ihre Institutionen belasten", sagt Bandle.

Eine EKD-Sprecherin widerspricht dieser Darstellung und erklärt, dass in Kürze neue Standards für die systematische und unabhängige Aufarbeitung verabschiedet würden.

Zahl der Austritte auf Rekordhoch

Das Bild der Evangelischen Kirche ist längst belastet. 2022 erklärten 380.000 Mitglieder ihren Austritt, so viele wie nie zuvor. Dazu kommt noch, dass etwa doppelt so viele Kirchenmitglieder sterben wie durch die Taufe neu hinzukommen.

Zudem ist vor gut zwei Wochen die höchste Instanz der Evangelischen Kirche, die Ratsvorsitzende Annette Kurschus, zurückgetreten. Ihr wird vorgeworfen, einen Fall sexualisierter Gewalt in ihrer Gemeinde vertuscht zu haben. Sie bestreitet dies und sagt, dass ihr die Bekämpfung sexueller Gewalt ein wichtiges Anliegen sei.

Kirchen zu sicheren Orten machen

Für Angelika Bandle passt das ins Gesamtbild: "Die Evangelische Kirche behauptet nach wie vor, dass sie die Guten sind. Die kommen alle mal in den Himmel. Wenn aber an der Fassade gekratzt wird, dann wird es für alle in der Kirche ganz schwierig." Sie habe schon lange mit der Kirche abgeschlossen.

Statt die besonders Hilfsbedürftigen zu schützen, seien genau diese Menschen zum Opfer von sexualisierter Gewalt geworden. In den Heimen habe es benachteiligte Kinder getroffen, die sonst niemanden hätten, erzählt sie im Gespräch mit tagesschau.de.

Detlev Zander vom Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt sieht das genauso, glaubt allerdings noch an eine Reform der Evangelischen Kirche. Deshalb setzt er sich ein: "Ich möchte nicht, dass ein Kind mit so einer Hypothek ins Leben geschickt wird. Ich leide heute noch. Durch meine Erfahrung habe ich eine große Expertise und will damit helfen, dass die Kirchen und die diakonischen Einrichtungen zu sicheren Orten werden."

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