Kurschus erklärt ihren Rücktritt als EKD-Ratsvorsitzende

Evangelische Kirche EKD-Ratsvorsitzende Kurschus legt Ämter nieder

Stand: 20.11.2023 19:02 Uhr

Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Kurschus, hat ihren Rücktritt von allen Ämtern erklärt. Ihr wird vorgeworfen, als frühere Gemeindepfarrerin in Siegen einen Fall sexuell übergriffigen Verhaltens vertuscht zu haben.

Paukenschlag um Deutschlands oberste Protestantin: Annette Kurschus tritt als Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zurück. Auch ihr Amt als Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen legt sie nieder. Das sagte Kurschus bei einer Pressekonferenz in Bielefeld.

Beide Ämter seien mit einem hohen Maß an Öffentlichkeit verbunden, erklärte sie. "Doch das Vertrauen der Öffentlichkeit in meine Person hat Schaden genommen", so die 60-Jährige. Die Entscheidung sei ihr nicht leichtgefallen. Doch durch den Vertrauensverlust habe sie nicht mehr die Aufklärung zum Thema sexuelle Gewalt in der Evangelischen Kirche voranbringen können.

Ermittlungen der Staatsanwaltschaft

Die Kritik an der EKD-Vorsitzenden, die 20 Millionen evangelische Christinnen und Christen vertritt, war in den vergangenen Tagen gewachsen. Die Siegener Staatsanwaltschaft ermittelt in mehreren Verdachtsfällen gegen einen früheren Kirchenmitarbeiter, der in den 1990er-Jahren - genau wie Kurschus - im Kirchenkreis Siegen tätig war. Der Beschuldigte soll über Jahre hinweg junge Männer sexuell bedrängt haben.

Nach Recherchen der "Siegener Zeitung" soll Kurschus als Gemeindepfarrerin in Siegen schon Ende der 1990er-Jahre über Vorwürfe sexuellen Fehlverhaltens gegen den Kirchenmitarbeiter informiert gewesen sein, diese aber nicht gemeldet haben. Die Zeitung hatte die Aussage zweier Männer zitiert, die Kurschus damals "im Detail über die Missbrauchsvorwürfe informiert haben wollen". Beide bekräftigten ihre Aussagen demnach mit eidesstattlichen Versicherungen.

EKD-Ratsvorsitz
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ist der Dachverband der 20 lutherischen, reformierten und unierten evangelischen Landeskirchen. Sie vertritt rund 19,2 Millionen protestantische Christen in der Bundesrepublik. Die EKD wird von einem 15 Mitglieder zählenden Rat geleitet, an dessen Spitze eine Ratsvorsitzende oder ein Ratsvorsitzender steht. Er oder sie wird für sechs Jahre gewählt und vertritt die evangelische Kirche in der Öffentlichkeit. Die Wahl erfolgt durch das 128 Mitglieder zählende Kirchenparlament, die Synode der EKD, und die Kirchenkonferenz, in der die 20 Landeskirchen vertreten sind.

Der Rücktritt von Annette Kurschus ist der dritte in der Geschichte der EKD seit 1948. Die hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann gab das Amt 2010 nach einer Fahrt unter Alkoholeinfluss am Steuer ihres Dienstwagens ab. Sie stand nur drei Monate an der Spitze der EKD. Ihr Nachfolger, der rheinische Präses Nikolaus Schneider, trat 2014 zurück, um sich um seine an Krebs erkrankte Frau Anne zu kümmern

Betroffene forderten Rücktritt

Detlev Zander, einer der Betroffenen-Sprecher im Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt der EKD, hatte deshalb am Wochenende den Rücktritt von Kurschus gefordert. "Ihre Salamitaktik, dass sie sich nur scheibchenweise dazu äußert, ist schädlich für alle, die sich in der evangelischen Kirche ernsthaft um Aufklärung bemühen", sagte Zander dem "Spiegel" und fügte hinzu: "Die Betroffenen sind extrem verärgert."

Kurschus wies in ihrer heutigen Erklärung erneut die Darstellung zurück, sie habe damals etwas vertuscht: "Ich habe allein Homosexualität und die eheliche Untreue des Beschuldigten wahrgenommen." Anfang 2023 sei eine anonyme Anzeige gegen den Beschuldigten eingegangen. "Vorher hatte ich keine Kenntnis von Taten sexualisierter Gewalt durch diese Person", betonte sie. "In der Sache bin ich mit mir im Reinen", sagte die 60-Jährige. "Ich habe zu jeder Zeit nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt." Inzwischen habe sich aber die öffentliche Debatte um den Vorgang derart zugespitzt, dass sie keine Alternative zum Rücktritt sehe.

"Nicht gerechtfertigten Vertrauensentzug"

Als Reaktion auf den Rücktritt von Kurschus erklärte der frühere Präsident des NRW-Verfassungsgerichtshofs, Michael Bertrams, seinen sofortigen Rückzug aus der westfälischen Kirchenleitung. Kurschus sei "einem nicht gerechtfertigten Vertrauensentzug, verbunden mit einer erschreckenden Lieblosigkeit und Kälte an der Spitze der EKD und in den eigenen Reihen vor Ort zum Opfer gefallen", heißt es in einem Schreiben von Bertrams an die Kirchenleitung, aus dem der "Kölner Stadt-Anzeiger" zitiert.

Ohne Kurschus an der Spitze der Kirchenleitung wolle er nicht länger Mitglied dieses Gremiums sein, erklärte Bertrams. Mit ihrer Rücktrittserklärung habe die Theologin noch einmal vor Augen geführt, was für eine Präses und Ratsvorsitzende sie gewesen sei: "ein integrer und mitfühlender Mensch, eine glaubwürdige Verkünderin der Frohen Botschaft", zitiert die Zeitung aus dem Schreiben. Sie sei "eine Theologin und Predigerin von einem Niveau, wie es in Deutschland nicht oft anzutreffen ist".

Schlechte Kommunikation, fehlendes Vertrauen

Der NDR-Journalist Florian Breitmeier, Leiter der Redaktion Religion und Gesellschaft, sagte auf tagesschau24, der Umgang mit dem gesamten Fall sei nicht unbedingt glücklich gewesen. "Man hätte viel früher eine Strategie entwickeln müssen, wie man kommuniziert, dass es diesen Fall gibt." Auch habe Kurschus offenbar Rückhalt im Führungsgremium gefehlt. "Es gab keine Stellungnahme durch den EKD-Rat beispielsweise, ihr das Vertrauen auszusprechen." Die westfälische Landeskirche habe das getan.

Dennoch zeigte sich Kurschus bei ihrem Auftritt wenig selbstkritisch. "Sie sagt nicht: 'Ich habe große Fehler gemacht oder anders kommunizieren müssen', sondern sie spricht von einem gemachten Skandal", so Breitmeier.

Auch Betroffene des sexuellen Missbrauchs oder deren Angehörige seien offenbar nicht gut eingebunden gewesen. Nachdem sie die im Raum stehenden Vorwürfe Anfang des Jahres an die Landeskirche herangetragen hatten, sei zwar ein Interventionsteam gegründet worden, auch wurde die Staatsanwaltschaft eingeschaltet. "Dennoch müssen die Betroffenen über Monate offenbar das Gefühl gehabt haben, es passiert gar nichts, sodass sie dann den Schritt an die Presse gegangen sind. Und die Presse hat Öffentlichkeit herzustellen - das ist ihr Job", so Breitmeier.

Zweite Frau, die Vorsitz vorzeitig abgibt

Kurschus war seit 2012 Präses und damit leitende Geistliche der Evangelischen Kirche von Westfalen. 2021 wurde sie zusätzlich an die Spitze des EKD-Rates gewählt. Die EKD vertritt 20 Landeskirchen mit etwa 13.000 Kirchengemeinden. Kurschus ist nach Margot Käßmann die zweite Frau an der EKD-Spitze, die ihre leitenden Kirchenämter vorzeitig abgibt. Käßmann trat im Februar 2010 als Ratsvorsitzende und Hannoversche Landesbischöfin zurück, nachdem sie alkoholisiert Auto gefahren und von der Polizei gestoppt worden war.

Vertreter der evangelischen Kirche dankten Kurschus für ihre bisherige Arbeit. Die Präses der EKD-Synode, Anna-Nicole Heinrich, äußerte die Hoffnung, dass die Entscheidung von Kurschus nun den notwendigen Raum dafür schaffe, ihren Umgang mit einem Fall sexuell übergriffigen Fehlverhaltens aufzuarbeiten. Die Hamburger Bischöfin Kerstin Fehrs, die den EKD-Ratsvorsitz kommissarisch übernommen hat, bekundete Hochachtung für die Rücktrittsentscheidung von Kurschus. "Diese Geradlinigkeit und Konsequenz hat auch unsere Zusammenarbeit im Rat der EKD geprägt."

Der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, äußerte sein Bedauern über den Rücktritt. Damit "verliert der ökumenische Motor in unserem Land einen wesentlichen Antrieb", sagte Bätzing. "Ich bin dankbar für die Zeit, in der wir miteinander die ökumenische Verantwortung in Deutschland geteilt haben."