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Kontext

Corona-Pandemie Die RKI-Files und der Skandal, der keiner ist

Stand: 25.03.2024 18:23 Uhr

Bisher unveröffentlichte Protokolle des Robert Koch-Instituts zur Corona-Pandemie sorgen derzeit für Aufsehen. Allerdings sind die Inhalte laut Experten weit weniger brisant, als es vor allem in "Querdenker"-Kreisen behauptet wird.

Von Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

Eine große Welle der Empörung hat sich vergangene Woche in den sozialen Netzwerken ausgebreitet - und wurde von einigen seriösen Medien aufgegriffen und multipliziert. Der Grund für die Aufregung sind Protokolle des Corona-Krisenstabs des Robert Koch-Instituts (RKI), die von einem Blog freigeklagt und veröffentlicht wurden. Einzelne Ausschnitte der insgesamt mehr als 1.000 Seiten werden seitdem zu einen vermeintlichen Skandal hochstilisiert. Das ZDF schreibt beispielsweise von "brisanten" Corona-Protokollen, die "politische Sprengkraft" haben könnten.

Als einer der Hauptgründe für die vermeintliche Brisanz wird die Entscheidung des RKI am 17. März 2020 angeführt, die Risikobewertung durch Corona für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland von mäßig auf hoch einzustufen. Aus den Protokollen gehe demnach hervor, dass diese Entscheidung nicht auf fachlicher Einschätzung des RKI, sondern auf der politischen Anweisung eines externen Akteurs geschah. Allerdings lässt sich das aus den Protokollen so nicht entnehmen.

Fallzahlen stiegen stark an

Im Protokoll vom 16. März 2020 steht, dass am Wochenende eine neue Risikobewertung vorbereitet wurde. "Es soll diese Woche hochskaliert werden", heißt es. Die Risikobewertung werde veröffentlicht, sobald eine in den Dokumenten geschwärzte Person ein Signal dafür gebe. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums steht hinter der Schwärzung "ein interner Mitarbeiter des RKI".

Das RKI hatte somit bereits eine neue Risikobewertung vorgenommen, die jedoch noch nicht veröffentlicht wurde. Die Behauptung, dass diese Entscheidung nicht auf fachlicher Einschätzung passiert sei, ist somit irreführend. Es fehlte lediglich die Zustimmung einer bestimmten Person, um diese Risikobewertung zu veröffentlichen.

Zudem sei es fragwürdig, diese erhöhte Risikobewertung so darzustellen, als hätte es dafür keine Anhaltspunkte zu dem Zeitpunkt gegeben, sagt Hajo Zeeb, Professor für Epidemiologie an der Universität Bremen. Denn die Zahl der Corona-Infektionen stieg im März 2020 rasant an. Am 4. März waren in Deutschland erst 262 Fälle gemeldet worden, am 16. März, also knapp zwei Wochen später, waren es kumuliert bereits 6.012.

"Es gab damals erste Anzeichen für ein klassisches exponentielles Wachstum auch in Deutschland", sagt Emanuel Wyler, Molekularbiologe am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC). "Daher kam die Entscheidung des RKI eigentlich nicht überraschend."

Auch weltweit stieg die Zahl der gemeldeten Infektionen in dem Zeitraum schnell an: Von 94.150 Fälle auf 167.667. Die Zahl der globalen Todesfälle stieg von 3.219 auf 6.442. Besonders aus dem italienischen Bergamo wurden zu der Zeit zahlreiche Todesfälle gemeldet.

"Nicht nur aus einer kleinen, verengten deutschen Sicht, sondern auch aus einer weltweiten Sicht muss man ganz klar sagen, dass die Zahlen explosiv hochgegangen sind", sagt Zeeb. Zwar wurde ab Mitte März auch mehr getestet, jedoch stieg auch die Positivrate in Deutschland innerhalb von einer Woche um gut einen Prozentpunkt an. "So ein Anstieg innerhalb so kurzer Zeit ist substanziell, auch wenn es nicht nach viel klingt", sagt Zeeb. Denn die Tests lieferten zu der Zeit nur einen kleinen Ausschnitt des Infektionsgeschehens.

WHO hatte Corona bereits zur Pandemie erklärt

Die Weltgesundheitsorganisation WHO hatte bereits am 11. März Covid-19 zu einer Pandemie erklärt - also als einen Krankheitsausbruch, der nicht mehr örtlich beschränkt ist. Die EU-Gesundheitsbehörde ECDC hatte am 13. März das Risiko für verbreitete und anhaltende Übertragung von Corona als mäßig für die Allgemeinbevölkerung und als hoch für ältere Erwachsene und Personen mit chronischen Grundleiden eingestuft.

Deutschland habe mit der Entscheidung, die Risikobewertung hochzustufen, somit ohnehin nicht alleine dagestanden, so Zeeb. "Das sind internationale Abstimmungen, oft auf Weltbevölkerungsniveau wie bei der WHO. Und da kann ein Land wie Deutschland nicht plötzlich sagen: Nein, wir finden das aber alles anders." Auch Deutschlands Nachbarländer hatten zu der Zeit bereits einschneidende Maßnahmen eingeleitet. Die Schweiz hatte beispielsweise ebenso wie Spanien den Notstand verhängt und wie mehrere EU-Länder ihre Grenzen geschlossen, Frankreich hatte landesweite Ausgangssperren eingeführt.

"Es gibt auch andersherum die Diskussion, dass diese Hochstufung eigentlich schon Ende Januar, Anfang Februar hätte erfolgen sollen", so Zeeb. "Es ist doch ein bisschen verwunderlich, nach einem sehr großen pandemischen Geschehen mit vielen Millionen Todesfällen daran zu zweifeln, ob die Risikoeinschätzung damals falsch war."

Das RKI verweist auf Anfrage auf die Grundlagen des Instituts für die Risikoeinschätzung. In diese Bewertung gehen demnach der jeweils verfügbare aktuelle Kenntnisstand zur internationalen Situation, die aktuelle epidemiologische Lage in Deutschland sowie die Verfügbarkeit von Schutz- und Behandlungsmaßnahmen ein. "Verschiedene Medien haben gemutmaßt, dass die Hochstufung der Risikoeinschätzung nicht unabhängig erfolgte. Das ist falsch", schreibt das RKI zudem in einem Statement.

Keine Evidenz für Nutzen von FFP2-Masken?

Auch weitere Aspekte der sogenannten RKI-Files sind nach Ansicht von Zeeb weniger skandalös, als von einigen Medien und verschwörungsideologischen Seiten behauptet wird. Dass beispielsweise in einem Protokoll vom 30. Oktober 2020 vermerkt wird, dass es "keine Evidenz für die Nutzung von FFP2-Masken außerhalb des Arbeitsschutzes" gibt, hieße nicht, dass die Masken deshalb nutzlos gewesen seien.

"Bis von einer wissenschaftlichen Evidenz ausgegangen werden kann, vergeht viel Zeit", sagt Zeeb. "Es hätte der Bevölkerung mit Sicherheit nicht geholfen, erst einmal keinerlei Maßnahmen zu treffen und auf Studienergebnisse zu warten." Denn für das neuartige Coronavirus habe es zu dem Zeitpunkt noch keine Studien gegeben, die den hohen Ansprüchen genügten, um den Nutzen von Masken mit Blick auf Covid-19 zu belegen.

Ohnehin sei es schwierig, den Nutzen von FFP2-Masken in Studien einwandfrei nachzuweisen, sagt auch Wyler. "Selbst wenn man zwei Vergleichsgruppen hat, kann es theoretisch ja auch sein, dass die Menschen mit FFP2-Maske sich einfach auch vorsichtiger verhalten haben und deshalb seltener angesteckt worden sind." Vom Prinzip her habe man aber gewusst, dass eine Maske bei einem Virus, das durch Aerosole und Tröpfchen übertragen wird, zu einem gewissen Maß helfe.

"Es musste zunächst mit Analogien gearbeitet werden", sagt auch Zeeb. Beispielsweise habe man geschaut, wie der Nutzen von Masken bei anderen Viren mit ähnlicher Übertragung aussehe. Dadurch habe es zumindest schon einmal Anhaltspunkte dafür gegeben, dass FFP2-Masken auch im Fall von Covid-19 wirken könnten. Inzwischen gibt es mehrere Studien, die zeigen, dass das Tragen von Masken das Risiko einer Infektion verringern kann.

"Es gibt immer noch nicht so richtig viele große Studien zu dem Thema, aber die Studien, die es gibt, sind doch relativ klar", sagt Zeeb. "Man weiß heute, dass Masken einen großen Beitrag geleistet haben."

Aussage aus Kontext gerissen

Auch weitere Aspekte, die bislang von den Protokollen in einigen Kreisen skandalisiert werden, sind bei genauer Betrachtung nicht wirklich neu. So heißt es in einem Protokoll beispielsweise, dass der Impfstoff von AstraZeneca "weniger perfekt" sei als die anderen. Dass die Wirksamkeit im Vergleich zu den Vakzinen von BioNTech/Pfizer und Moderna geringer ausfällt, wurde bereits zu Beginn der Impfkampagne thematisiert. So wurde der Schutz durch AstraZeneca für die damals herrschende Coronavariante mit 76 Prozent angegeben, die anderen Impfstoffe lagen bei mehr als 90 Prozent.

"Jeder Impfstoff muss erst mal gut geprüft werden, um überhaupt zugelassen zu werden", sagt Zeeb. "Und das Vakzin von AstraZeneca war auf jeden Fall wirksam und schnell verfügbar. Dass der Impfstoff dann auch ein paar weitere unerwünschte Wirkungen hatte, ist auch bekannt und deswegen ist er dann auch nicht mehr für alle empfohlen worden." Wegen mehrerer gemeldeter Verdachtsfälle einer Sinusvenenthrombose nach Impfungen mit AstraZeneca empfahl die Ständige Impfkommission (STIKO) das Vakzin nur noch für über 60-Jährige.

In einigen Kreisen wird auch fälschlicherweise behauptet, dass aus den Protokollen hervorgehe, dass die Konsequenzen des Lockdowns in Deutschland aus Sicht des RKI zum Teil schwerere Konsequenzen hätten als Corona selbst. Dieser Teil des Protokolls bezieht sich allerdings auf den Verlauf der Pandemie in Afrika, wie aus dem Dokument hervorgeht. Dort gab es demnach indirekte negative Effekte des Lockdowns durch Lücken bei der Behandlung von Tuberkulose und Aussetzung von Routineimpfprogrammen, was eine steigende Kindersterblichkeit erwarten ließe.

Insgesamt sieht Wyler in den veröffentlichten Protokollen keine wirklichen Neuigkeiten. "Die Diskussionen, die den Dokumenten zu entnehmen sind, sind sehr reflektiert. Sie zeigen, dass das RKI damals sehr wohl die Vor- und Nachteile einzelner Maßnahmen berücksichtigt hat." Entschieden habe letzten Endes die Politik, welche Empfehlungen auf der Grundlage des damaligen Wissens umgesetzt werden und welche nicht.

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