Polizisten rücken im Juli 2019 zu einer Drogenrazzia in Duisburg aus.
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BKA-Lagebild Wie gefährlich ist Organisierte Kriminalität?

Stand: 01.10.2019 09:48 Uhr

Das kürzlich vom BKA publizierte Lagebild "Organisierte Kriminalität" gilt als maßgeblich zur Bestimmung des Ausmaßes und der Gefahr des Phänomens. Doch die Aussagekraft ist begrenzt.

Seit 1991 veröffentlicht das Bundeskriminalamt (BKA) jedes Jahr ein Bundeslagebild "Organisierte Kriminalität" (OK). Grundlage ist dabei eine Definition, die Organisierte Kriminalität von anderen Kriminalitätsformen abgrenzen soll:

Organisierte Kriminalität ist die von Gewinn- oder Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung sind, wenn mehr als zwei Beteiligte auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen, unter Anwendung von Gewalt oder anderer zur Einschüchterung geeigneter Mittel oder unter Einflussnahme auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft zusammenwirken.

Dunkelfeld besonders groß

Wie alle polizeilichen Statistiken beleuchtet auch das OK-Lagebild nur das Hellfeld der Kriminalität, also die Fälle, die der Polizei bekannt geworden sind und in denen sie ermittelt hat. Die OK-Strukturen sind aber extra darauf angelegt, keine Informationen nach außen dringen zu lassen. Deswegen hat die Polizei in diesem Bereich besonders hohe Ermittlungshürden zu überwinden. Sie darf aber - auf richterliche Anordnung - auch ein erhebliches Maß an Ermittlungsmethoden anwenden, die sonst nicht oder nur stark eingeschränkt möglich sind. Dazu gehören verdeckte Ermittler, Infiltration, räumliche Überwachung oder Abhörmaßnahmen.

"Das Problem ist, dass die Definition von 'Organisierter Kriminalität' aus wissenschaftlicher Sicht einige unbestimmte Rechtsbegriffe enthält", sagt die Juristin Susanne Knickmeier vom Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht. "Die Frage, was sind 'Straftaten von erheblicher Bedeutung', was ist geeignet, das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung 'empfindlich' zu stören, das sind alles Begriffe, die aus wissenschaftlicher Sicht einfach unscharf sind. Es gibt irgendwas, was darunt erfällt, aber unter diese Definition kann man polizeilich vor allem fassen, was man gerne fassen möchte."

Wirtschaftskriminalität bleibt zumeist außen vor

Bestimmte Formen von Kriminalität, die man durchaus auch "organisiert" nennen könnte, tauchen dagegen gar nicht erst auf: Dies betrifft vor allem weite Teile der Wirtschaftskriminalität, die polizeiorganisatorisch und statistisch in einen anderen Zuständigkeitsbereich fallen, obwohl Wirtschaftsverfahren innerhalb des OK-Bereiches regelmäßig die höchsten Schadenssummen ausweisen.

Für die Juristin Knickmeier ist da ein Problem: "Wenn Sie sich den VW-Skandal anschauen, ist es definitorisch kein Problem zu sagen, da geht es um Gewinn- und Machtstreben, das sind auch keine 'geschäftsähnlichen', sondern offiziell 'geschäftliche' Strukturen - und der Schaden für die Gesellschaft ist enorm."

Trotzdem finden solche Straftaten keinen Eingang in die OK-Statistik. Obwohl solche Straftaten also ebenfalls von 'erheblicher Bedeutung' sind - und der Einfluss von Konzernen wie VW auf Politik und Öffentlichkeit unbestreitbar - werden diese Bereiche aus der Organisierten Kriminalität weitgehend ausgeklammert.

Für den Berliner Kriminologen Klaus von Lampe ist das auch in anderer Hinsicht problematisch: "Die Strafverfolgungsbehörden nehmen sich mit dieser organisatorischen Trennung von Wirtschaftsstrafverfahren und OK-Verfahren hinsichtlich der Wirtschaftskriminalität auch das Instrumentarium, das für OK-Verfahren kennzeichnend ist. In den USA zum Beispiel hat man diese Einschränkungen bei Wirtschaftskriminalität nicht." Von Lampe weist allerdings darauf hin, dass die US-Gesetzgebung nur schwer mit deutschem Verfassungsrecht in Einklang zu bringen wäre.

Clans im Fokus der Ermittler

Im Gegensatz zu organisierter Wirtschaftskriminalität werden kriminelle Großfamilien seit einigen Jahren von Politik, Medien und Öffentlichkeit als besonders gefährlich wahrgenommen. Polizeiliche OK-Ermittlungen unterliegen also auch einer gewissen politischen Konjunktur. Das zeigt sich der Juristin Knickmeier zufolge im aktuellen Lagebild, das der Clankriminalität erstmals ein eigenes Kapitel widmet: "Damit möchte man unter anderem den Bereich Paralleljustiz erfassen und aufklären. Da gäbe es aber auch noch andere relevante Gruppen wie beispielsweise Reichsbürger. Die sind aber nicht gemeint - und tauchen generell nirgendwo im OK-Bereich auf, obwohl sie zweifelsohne Straftaten von erheblicher Qualität begehen."

Knickmeier weist in diesem Zusammenhang auch noch auf ein anderes Problem hin: "In den Strafverfolgungsstatistiken der Justiz werden diese Verfahren nicht mehr als 'Organisierte Kriminalität' ausgewiesen." Das heiße, am Ende könne man "nicht nachvollziehen, wie erfolgreich die polizeilichen Ermittlungen in diesem Bereich im Hinblick auf Verurteilungen tatsächlich sind".

Insgesamt rückläufige Zahlen

So ist zum Beispiel die Anzahl der Verfahren im Bereich Organisierter Kriminalität im langjährigen Vergleich rückläufig - trotz des wachsenden Einflusses der Clans. Der Rückgang der Verfahren beginnt ab 2001, was nach Aussagen von Experten kein Zufall ist. Das sei "der Tatsache geschuldet, dass nach den Anschlägen vom 11. September 2001 massiv polizeiliche Ressourcen von der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität in die Bekämpfung des Terrorismus verlagert wurden", stellt der Kriminologe von Lampe fest.

Trotzdem hält der Forscher sowohl das Lagebild als auch die Einbeziehung der Clans für wichtig und richtig: "Das Lagebild ist bei allen Schwächen der beste jährliche Überblick über den OK-Bereich, den wir haben." Dass der Einfluss der Familienclans seit Jahren steige, sei auch kriminologisch abgesichert: Das könne man "zum Beispiel daran überprüfen, welche Menge Rauschgift man in den Verkehr bringen kann, bevor man sich zumindest unter den Schutz einer solchen Organisation stellen muss".

Das Netz der Kontrolle zum Beispiel über Drogendealer sei so engmaschig geworden, "dass es selbst bei kleinen Mengen auffällig schwierig wird, unabhängig von den Clans Drogen zu verkaufen. Einerseits bekommen die Clanmitglieder das schneller mit, andererseits haben die wohl immer mehr den Ehrgeiz, sich auch um die 'kleinen Fische' zu kümmern."

Ursachen sind kaum Thema

Doch bei der Bekämpfung kommen die Ursachen für von Lampe häufig zu kurz: "Es gibt da ein sehr populäres Missverständnis: Diese Leute sind nicht in erster Linie in Rockerbanden, Clans oder in der Mafia, um Straftaten zu begehen, sondern weil sie bereits Teil eines kriminellen Unterschichten-Milieus sind." Wenn beispielsweise jemandem ein Kilo Heroin gestohlen werde, könne er nicht die Polizei rufen. "Oder jemand weigert sich, für Hehlerware zu bezahlen. Dann können Sie nicht zu Gericht gehen und Vollstreckung beantragen. Und genau darum braucht man dann Personen und Organisationen, die Konflikte beilegen oder auch nur Schutz garantieren können." Das sei aus wissenschaftlicher Sicht das Grundphänomen, weshalb es zu diesen Formen von Kriminalität komme.

Das OK-Lagebild liefert also vor allem einen jährlichen Vergleich der Ermittlungsarbeit der Polizei. Doch weder die abnehmende Zahl der Verfahren noch die mediale und politische Aufregung um die Clans lassen Rückschlüsse auf das reale Ausmaß oder die reale Gefahr bestimmter Kriminalitätsformen zu. Dafür ist das Dunkelfeld zu groß - und zu viel von Zuständigkeiten und Einschätzungen der Ermittlungsbehörden abhängig.

"Nach unserer Forschung ist das mitunter sehr individuell geprägt", sagt von Lampe. "Wenn Sie in derselben Einheit drei Beamten denselben Beispielfall vorlegen, kann es sein, dass Sie ganz unterschiedliche Einschätzungen bekommen, ob es sich überhaupt um Organisierte Kriminalität handelt."