Polizist vor dem verwüsteten Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin

Lagebild des BKA Verletzt - aber für die Statistik tot

Stand: 30.08.2019 06:00 Uhr

Das Lagebild des BKA zu "Kriminalität im Kontext von Zuwanderung" zählt Verletzte des Attentats vom Breitscheidplatz als vollendete Tötungsdelikte. Nicht nur deshalb werden die Zahlen instrumentalisiert.

Verschiedene rechte Blogs und Politiker verbreiten immer wieder Meldungen, wonach die Zahl der Sexual- und Tötungsdelikte, die von Zuwanderern gegen Deutsche begangen werden, enorm angestiegen ist. Der AfD-nahe "Deutschlandkurier" titelte: "Gewalt von Zuwanderern gegen Deutsche nimmt drastisch zu" - und schrieb von einem Anstieg deutscher Opfer um 105 Prozent im Vergleich zu 2017. Auch die "Preußische Allgemeine" berichtete, "230 Deutsche seien einem gewaltsamen Kapitalverbrechen zum Opfer gefallen, an dem mindestens ein tatverdächtiger Zuwanderer beteiligt war".

Der Berliner AfD-Abgeordnete Thorsten Weiß veröffentlichte zudem eine Grafik, aus der hervorgehen soll, wie stark die Kriminalität gestiegen sei.

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Facebook-Post des Berliner AfD-Abgeordneten Thorsten Weiß: Die absoluten Zahlen stammen vom BKA - die mangelhafte Prozentrechnung offenbar von Weiß. Die getroffenen Aussagen sind so nicht haltbar.

Die rechten Medien und AfD-Politiker berufen sich dabei auf das "Bundeslagebild Kriminalität im Kontext von Zuwanderung", das das Bundeskriminalamt (BKA) seit 2015 publiziert. Zwar sind die Zahlen an sich korrekt ausgewiesen, in der Grafik von AfD-Politiker Weiß werden die Steigerungen jedoch um jeweils 100 Prozentpunkte zu hoch ausgewiesen.

Lebendige Opfer vollendeter Tötungsdelikte

Doch gab es innerhalb eines Jahres tatsächlich einen Anstieg der deutschen Todesopfer um mehr als 100 Prozent? In der Realität nicht, in der Statistik schon: Im BKA-Lagebild heißt es unter "Fallkonstellation: Zuwanderer tatverdächtig - Opfer deutsch" tatsächlich, dass 230 Deutsche einer Straftat im Bereich Mord, Totschlag und Tötung auf Verlangen zum Opfer fielen, "an der mindestens ein tatverdächtiger Zuwanderer beteiligt war". Im Vorjahr waren es demnach 112, was dem erwähnten Anstieg von 105 Prozent entspricht.

Ausschlaggebend für diesen deutlichen Anstieg ist die Erfassung der Opfer des Anschlages am Berliner Breitscheidplatz vom Dezember 2016. Die Opfer wurden erst in der Statistik für 2018 erfasst. Und nicht nur das: Das BKA erklärte auf Anfrage des ARD-faktenfinder: Aufgrund der Erfassungsmodalitäten der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) würden "die Opfer unabhängig vom Verletzungsgrad als Opfer eines vollendeten Tötungsdelikts erfasst". Das heißt: Neben den sieben deutschen Todesopfer des islamistischen Terroristen Anis Amri wurden auch 75 Verletzte als "vollendete Tötungsdelikte" gezählt.

Das BKA teilte dazu mit: "Aufgrund der geltenden Regularien bzw. der technischen Erfassungsvorgaben der PKS kann sich ein Interpretationsproblem bei der Konstellation eines vollendeten Tötungsdeliktes mit mehreren Opfern ergeben, bei dem nicht alle Opfer getötet wurden." Um diese "Interpretationsproblematik" zu beheben, werde ab 2020 bei Opfern bundesweit das Attribut "Verletzungsgrad" eingeführt. Dadurch sollen dann "eindeutige Aussagen möglich" werden, wie viele Opfer in Folge eines Deliktes verstorben seien.

Gesetzesänderung lässt Sexualstraftaten ansteigen

Bei den Sexualdelikten gibt es laut dem Lagebild ebenfalls einen signifikanten Zuwachs, sowohl der Gesamtstraftaten als auch der von "Zuwanderern" verübten.

Allerdings wurde das Sexualstrafrecht 2016 nach den Vorfällen in der Kölner Silvesternacht verschärft. Dabei wurde unter anderem ein neuer Straftatbestand geschaffen, nämlich "Sexuelle Belästigung" nach §184i Strafgesetzbuch. Dementsprechend schnellen die Zahlen in diesem Bereich ab dem Berichtsjahr 2017 nach oben, denn allein im ersten Jahr nach der Einführung wurden mehr als 9600 "Sexuelle Belästigungen" nach dem neuen Strafrechtsparagrafen polizeilich verfolgt. Der Anteil der "Zuwanderer" an den Sexualstraftaten insgesamt erhöht sich 2017 um 2,8 Prozentpunkte - obwohl erstmals die große Gruppe anerkannter Asylbewerber mitgezählt wurde.

Probleme bei Definition der "Zuwanderer"

Zunächst hatte das BKA 2015 die "Zuwanderer" in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) nämlich als Tatverdächtige mit Aufenthaltsanlass "Asylbewerber", "Duldung", "Kontingentflüchtling/Bürgerkriegsflüchtling" oder "unerlaubter Aufenthalt" definiert. Diese Definition wurde in mehrfacher Hinsicht kritisiert: Zum einen weicht sie erheblich vom alltäglichen Sprachgebrauch ab, da Gastarbeiter, anerkannte Asylbewerber oder EU-Migranten ausdrücklich nicht gemeint waren, im Alltag aber als "Zuwanderer" bezeichnet werden. Die erhöhte Kriminalität in der Gruppe der "Zuwanderer", wie sie das BKA definiert, droht daher sprachlich auf andere Gruppen übertragen zu werden.

Zum anderen hatte die ursprüngliche BKA-Definition den Nachteil, das sie viele Menschen umfasste, die kaum legal Geld verdienen können: In den ersten 15 Monaten dürfen Asylbewerber nur sehr eingeschränkt arbeiten. Nicht anerkannte Antragsteller und Geduldete bekommen auch später nur unter besonderen Umständen eine Arbeitserlaubnis. Und wer sich unerlaubt in Deutschland aufhält, kann ohnehin keiner offiziellen Tätigkeit nachgehen. Die so gebildete Gruppe der "Zuwanderer" war also schon aufgrund des prekären Aufenthaltsstatus' und der fehlenden legalen Arbeitsmöglichkeiten stärker kriminalitätsgefährdet als andere Vergleichsgruppen.

Zudem ist die Größe dieser Gruppe kaum messbar, denn wie viele Menschen sich insgesamt illegal in Deutschland aufhalten, ist nicht bekannt. Zwar wissen die Behörden die Anzahl derjenigen, die abgeschoben werden sollen, aber wer ohne jeden Pass und/oder Aufenthaltstitel in Deutschland lebt, wird sich kaum offenbaren.

Nach Änderung der Definition deutlich mehr "Zuwanderer"

Seit dem Berichtsjahr 2017 werden auch anerkannte Asylbewerber in die Betrachtung einbezogen. Daraus ergibt sich ein realistischeres Bild von der Gesamtkriminalität der "Zuwanderer", denn anerkannte Asylbewerber dürfen in aller Regel arbeiten - und sich deshalb weniger kriminalitätsgefährdet als Gruppen, denen dieses verwehrt ist.

Allerdings vergrößerte sich dadurch auch die Gruppe der als "Zuwanderer" definierten Personen erheblich. Es kamen laut statistischem Bundesamt nämlich etwa 1,15 Millionen Menschen hinzu, die 2017 in Deutschland als anerkannte Asylbewerber lebten. Dass durch eine solch große Gruppe auch die Gesamtzahl der Straftaten steigt, liegt auf der Hand.

BKA weist auf Mängel hin

Ausdrücklich betont das BKA in seinem Lagebild, dass die Zahlen wegen der veränderten Definitionen nicht umstandslos von Jahr zu Jahr vergleichbar seien - erstellt aber dennoch Grafiken, die genau diesen Vergleich zeigen. Das BKA verweist auch darauf, dass etwa 25 Prozent der für 2018 erfassten Straftaten bereits im Jahr 2017 oder früher verübt wurden. Die massive Unschärfe der Statistik über die Opfer von vollendeten Tötungsdelikten wird ebenfalls angegeben.

Diese Mängel der Statistiken werden von der AfD und rechten Medien jedoch nicht erwähnt. Sie instrumentalisieren die Zahlen ohne Kontext, um gezielt Stimmung zu machen.

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