Eine Frau mit Lese-Schreib-Schwierigkeiten übt mit Wortkarten in einem Alphabetisierungskurs für Erwachsene.
Kontext

Bildung in Deutschland Fehlinterpretierte Zahlen zu Analphabetismus

Stand: 13.09.2024 12:38 Uhr

In sozialen Netzwerken wird behauptet, dass in Deutschland rund zwölf Prozent Analphabeten leben und Migranten die Zahl zusätzlich nach oben treiben. Zwar stimmt die Zahl grundsätzlich - doch sie wird fehlinterpretiert.

Von Julia Kuttner, ARD-faktenfinder

"Im besten Deutschland liegt die Analphabeten-Quote bei circa 12 Prozent. Jeder siebte Erwachsene kann weder richtig oder gar nicht lesen und schreiben" - Postings, die mit genau diesen Worten beginnen, werden derzeit massiv unter anderem auf X und Telegram geteilt. "Übrigens, im deutschen Kaiserreich (1871-1918) betrug sie weniger als 1 Prozent und Analphabetismus galt als überwunden", gehen sie weiter.

Die Zahl von 12 Prozent stammt aus einer Studie. Für die Studie mit dem Namen "Leo 2018 - Leben mit geringer Literalität" wurden 2018 etwa 7.200 Menschen im Alter von 18 bis 64 Jahren befragt. Die Studienteilnehmer mussten dazu genug Deutsch sprechen, um der etwa einstündigen Befragung folgen zu können.

Das Ergebnis: In Deutschland können 6,2 Millionen Erwachsene kaum lesen und schreiben. Bei einer Vorgängerstudie, die im Jahr 2011 veröffentlicht wurde, waren es noch 7,5 Millionen Menschen mit geringen Lese- und Schreibfähigkeiten gewesen.

Migranten oftmals gar nicht erfasst

Unterstellt wird in den Postings und Kommentaren, dass die Zahl so hoch sei, weil aktuell so viele Migranten nach Deutschland kämen. Doch die werden in der Studie zum allergrößten Teil gar nicht erfasst.

Die Professorin Anke Grotlüschen war an der Studie beteiligt. Auf Anfrage des ARD-Faktenfinders erklärt sie, dass für die Studie keine Menschen befragt worden seien, die neu nach Deutschland gekommen sind und in Flüchtlingsunterkünften leben: "LEO 2010 und 2018 sind bevölkerungsrepräsentative Haushaltserhebungen der 18-64-jährigen Wohnbevölkerung, sprich derjenigen, die in Haushalten anzutreffen sind. Menschen in Unterkünften sind nicht erfasst - weder im Justizvollzug, der Pflege, in Einrichtungen für Behinderung noch Neuzuwanderung."

Was sagt sie zu der Behauptung, dass im Kaiserreich die Alphabetisierungsrate in Deutschland höher als jetzt sei? "Das ist ein fehlerhafter Vergleich. Die Messmethode im Kaiserreich bestand darin, in den Heiratsregistern zu zählen, wie oft mit Namen unterzeichnet wurde und wie oft mit drei Kreuzen unterzeichnet wurde", erklärt Grotlüschen.

Daten für LEO-Studie viel umfangreicher

Die für die LEO-Studie erfassten Daten sind viel umfangreicher. Außerdem wurde mit verschiedenen Alphabetisierungsleveln gearbeitet. "Alpha-Level 1 bedeutet, dass man Buchstaben kennt. Alpha-Level 2 beinhaltet die Wortebene, Alpha-Level 3 die Satzebene. Erst ab dem Alpha-Level 4, wenn man Texte lesen und schreiben kann, ist man nicht mehr gering, sondern umfassend literalisiert", erläutert Grotlüschen. Weiter sagt sie: "Alpha-Level 1-3 fassen wir zusammen und das meinen wir, wenn wir zwölf Prozent der Bevölkerung als gering literalisiert bezeichnen. Wir haben bewusst seit 2018 nicht mehr von 'funktionalem Analphabetismus' gesprochen, weil das mit totalem Analphabetismus verwechselt wird."

Die Betroffenen können also oftmals einzelne Sätze lesen und schreiben, aber keine zusammenhängenden Texte verstehen. Mit 52,6 Prozent hat mehr als die Hälfte von ihnen Deutsch als Muttersprache. Von den übrigen 2,9 Millionen Menschen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, sind mehr als drei Viertel nach eigenen Angaben in der Lage, in ihrer Erstsprache anspruchsvolle Texte zu lesen und zu schreiben. Sie sind also nur in der Zweitsprache Deutsch gering literalisiert.

Deutschland liegt im europäischen Vergleich übrigens im Mittelfeld. "In der OECD und Partnerländern liegen vergleichbare Quoten im Durchschnitt bei 19,8 Prozent der Bevölkerung", so Grotlüschen. Die Expertin weist darauf hin, dass keine aktuellen Daten vorliegen. Die Zahl der gering literalisierten Menschen sei aber von 2011 bis 2018 um mehr als eine Million gesunken. "Wir wissen nicht, wie sich der Trend entwickelt. Die anhaltende Bildungsexpansion ist ein wichtiger Prädiktor für bessere Lesekompetenz, zugleich sind die derzeitigen PISA-Entwicklungen ungünstig."

Missverstandene Zahlen aus Österreich

Aktuell wird in diesem Zusammenhang erneut argumentiert, dass Zahlen aus Österreich belegen würden, dass dort 70 Prozent der Geflüchteten Analphabeten seien und weder lesen noch schreiben könnten. Für Deutschland sehe die Situation bestimmt ähnlich aus, so die Behauptungen. Doch auch diese Zahlen werden in einem falschen Zusammenhang verwendet.

Die Daten beziehen sich auf das Jahr 2022. Es handelt sich um Auswertungen des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF). Diese betreffen Personen mit einem Alphabetisierungsbedarf. Das heißt aber nicht, dass alle diese Menschen weder lesen noch schreiben können.

Weil es dazu so viele Falschmeldungen gibt, hat der ÖIF einen eigenen Faktencheck veröffentlicht. Dort heißt es: "Hier muss zwischen zwei Arten von Alphabetisierungsbedarf unterschieden werden: Die erste Gruppe sind (primäre) Analphabeten, das sind Personen, die auch in der Muttersprache nicht oder nur wenig lesen und schreiben gelernt haben. Die zweite Gruppe sind Zweitschriftlernende, die zwar in einem anderen Schriftsystem wie zum Beispiel in der arabischen Schrift schreiben und lesen können, aber die das lateinische Schriftsystem noch nicht erlernt haben." Flüchtlinge mit Alphabetisierungsbedarf sind also nicht alle primäre Analphabeten.

Zahlen beziehen sich nicht auf alle Flüchtlinge

Konkret weist der ÖIF im Faktencheck außerdem zurück, dass sieben von zehn Flüchtlingen Analphabeten seien:

Hier ist es wieder wichtig, zwischen Analphabeten und Personen mit Alphabetisierungsbedarf zu unterscheiden! Flüchtlinge erhalten laut Integrationsgesetz beim ÖIF Beratungen, Werte- und Orientierungs- und Deutschkurse. Von den Flüchtlingen mit Zuerkennung im Jahr 2022 wurde vor dem ersten Deutschkurs bei sieben von zehn Personen ein Alphabetisierungsbedarf festgestellt, davon jeweils rund die Hälfte (primäre) Analphabeten und Zweitschriftlernende. Dieser Wert war aber nicht bei allen Zuerkennungs-Jahrgängen so hoch.

Die Zahlen beziehen sich also nicht auf alle Flüchtlinge, die nach Österreich gekommen sind, sondern nur auf jene, deren Aufenthaltsstatus 2022 anerkannt wurde und die einen Deutschkurs besuchten.

Keine Zahlen für Deutschland

Wie sieht die Situation in Deutschland aus? Auf Anfrage des ARD-Faktenfinders teilte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit: "Dem BAMF liegen keine Erkenntnisse zum Alphabetisierungsbedarf von Geflüchteten nach Staatsangehörigkeit vor." Es gebe verschiedene Arten von Alphabetisierungsbedarf bei Geflüchteten. Oft spielten auch individuelle Faktoren eine große Rolle.

Auch das BAMF stellt klar: "Vom primären Analphabetismus (keinerlei Kompetenzen beim Lesen und Schreiben) und funktionalen beziehungsweise sekundären Analphabetismus (geringe, nicht ausreichende beziehungsweise verlernte Schriftkompetenzen) ist beispielsweise der Zweitschrifterwerb abzugrenzen."

Beim Zweitschrifterwerb könne "gut an bereits vorhandene Lese- und Schreibkompetenzen der Teilnehmenden in ihren Erstsprachen angeknüpft werden". Der Zielgruppe der Zweitschriftlernenden würden allerdings die Kenntnis der lateinischen Schrift sowie vergleichbare Lernerfahrungen mit anderen Sprachen in lateinischer Schrift, wie zum Beispiel Englisch, Spanisch, Portugiesisch oder Französisch, fehlen.

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