Jean-Claude Juncker

Juncker zur Lage der EU Zwischen Krise und Aufbruch

Stand: 13.09.2017 06:47 Uhr

Wie soll es ohne Großbritannien weitergehen? Das ist eine der wichtigsten Fragen, die EU-Kommissionschef Juncker wohl in seiner "Rede an die Union" ansprechen wird. Mit Spannung wird erwartet, wie sehr er die Mitgliedsstaaten zu Reformen drängt.

Außerhalb der Brüsseler Sphäre sorgt Jean-Claude Junckers alljährlicher Auftritt in der Regel für deutlich weniger Aufsehen als er und sein Umfeld sich das wünschen würden.

Das liegt vor allem daran, dass der Kommissionspräsident eben nicht die Machtfülle eines US-Präsidenten besitzt. Seine "State of the Union" hat folglich auch nicht ganz dieselbe Tragweite.

Doch auch wenn Juncker in der komplizierten EU-Hierarchie weniger zu sagen hat als etwa einer der (noch) 28 Staats- und Regierungschefs - zuhören lohnt sich, denn der Luxemburger bestimmt die politische Agenda maßgeblich mit und spricht für gewöhnlich Tacheles: "Die EU ist zur Zeit nicht in Topform. Einiges lässt vermuten, dass wir es in Teilen mit einer existenziellen Krise zu tun haben."

Mutmacher und Therapeut

So besorgt, ja fast kleinlaut, wie die vergangenen beiden Male wird Juncker diesmal sicher nicht klingen. Im September 2015 standen er und die gesamte EU-Spitze noch ganz unter dem Eindruck des Beinahe-Grexit und der Flüchtlingskrise.

Ein Jahr später folgte dann der Brexit-Schock. Was bis dahin niemand für möglich gehalten hatte - dass nämlich ein so wichtiger Mitgliedsstaat wie Großbritannien der schwächelnden Gemeinschaft den Rücken kehrt - wurde buchstäblich über Nacht bittere Realität.

Die restlichen 27 sahen sich plötzlich mit der Herausforderung konfrontiert, den weiteren Zerfall aufzuhalten und die Zukunft der EU neu zu denken. Kommissionschef Juncker in der Rolle des Mutmachers und Therapeuten: "Wir respektieren und bedauern zugleich die britische Entscheidung. Aber die Europäische Union ist in ihrem Bestand nicht gefährdet."

Trotzige Aufbruchstimmung

Junckers betont nüchterne Sicht der Dinge, die sich vor Jahresfrist noch anhörte wie Wunschdenken, von den Abgeordneten aber umso tapferer beklatscht wurde, hat sich inzwischen durchgesetzt.

Zwar ist allen Beteiligten spätestens seit dem holprigen Start der Brexit-Gespräche bewusst, wie haarig die Trennung für beide Seiten werden könnte. Doch permanenter Krisenmodus und EU-Bashing, die noch vor kurzem die Debatten bestimmten, haben einer fast trotzigen Aufbruchsstimmung Platz gemacht.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker

Junckers nüchterne Sichtweise setzte sich inzwischen in Brüssel durch.

Dazu beigetragen haben, paradoxerweise, der Brexit selbst, besser gesagt: der dilettantische Umgang Londons damit, sowie der verstörende Triumph des Donald Trump.

Für den entscheidenden Umschwung aber sorgte der Wahlsieg des EU-Freunds Emmanuel Macron. Seit der vermeintlich unaufhaltsame Vormarsch der Populisten im Kernland Frankreich gestoppt ist, fällt es auch Juncker wieder leichter, optimistisch nach vorn zu blicken und den Mehrwert zu betonen, den eine starke, wirklich krisenfeste Union ihren Bürgern bieten kann.

Ein persönliches Manifest

Den "frischen Wind" des Macron-Siegs zu nutzen, um den schwer gebeutelten Tanker EU wieder auf Kurs zu bringen, das dürfte Juncker zum Leitmotiv seiner 2017-er Rede machen. Es wird vermutlich die letzte Ansprache, in der der 62-Jährige noch echte Impulse setzen kann.

Eine zweite Amtszeit hat der Luxemburger vor längerem ausgeschlossen. Im Vorfeld, so war zu hören, habe sich der Kommissionschef eng mit Paris und Berlin sowie seinem gesamten Kollegium abgestimmt. Trotzdem will er seine vorletzte Rede zur Lage der Union auch als "persönliches Manifest" verstanden wissen.

Anknüpfen kann er dabei an die "Erklärung von Rom", in der die Spitzen der Institutionen und Mitgliedsstaaten unter seiner Federführung im Frühjahr ein feierliches Bekenntnis zur Europäischen Einheit ablegten. Und an sein "Weißbuch", in dem er fünf Wege für eine EU nach dem Brexit aufzeigt: von Rückbau, über ein Weiter so bis hin zu "mehr Europa wagen".

Ein sechstes Szenario

Junckers mutmaßliches Wunschszenario - ein noch geheimes sechstes, wie er selbstironisch sagt - könnte so aussehen, dass die 27 dort, wo es sinnvoll ist, noch mehr als bisher gemeinsam entscheiden. Etwa in der Finanz- und Wirtschaftspolitik, Stichwort: Reform der Eurozone.

Oder bei der äußeren und inneren Sicherheit, Stichwort: Terrorabwehr und Verteidigungsunion. Oder in der Asyl- und Flüchtlingspolitik. Auch die Bedeutung von Handelsabkommen im weltweiten Wettbewerb mit China und den USA dürfte Juncker betonen.

Dem Europa der zwei Geschwindigkeiten abgeneigt

In all diesen Bereichen setzt der Kommissionschef auf ein "Fenster der Möglichkeiten", das sich nach der Bundestagswahl am 24. September auftun könnte. Beide Kanzlerkandidaten, Merkel wie Schulz, haben die Absicht geäußert, das deutsch-französische Tandem wiederzubeleben, um nötige Reformen auf EU-Ebene durchzusetzen.

Ein "Europa der zwei Geschwindigkeiten", mit dem Merkel und Macron liebäugeln, ist freilich nicht in Junckers Sinn. Wie viele andere fürchtet der Luxemburger, dies könnte die trotz allem sehr zerbrechliche Einheit gefährden und die EU am Ende doch noch in Nord und Süd beziehungsweise Ost und West spalten.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Kanzlerin Angela Merkel

Skeptisch sieht Juncker Macrons und Merkels Idee eines Europas der zwei Geschwindigkeiten.

Mit Spannung wird vor diesem Hintergrund zu beobachten sein, wie rücksichtsvoll Juncker mit den Problemländern Ungarn und Polen umgeht und was er zu den schwierigen Partnern Türkei, Russland und USA zu sagen hat.

Die Regierungen in Budapest und Warschau sind seit einer ganzen Weile dabei, sich von der Wertegemeinschaft EU zu entfernen. Die Kommission, deren Geduld allmählich erschöpft ist, hat gegen beide Verfahren eingeleitet und kann sich durch das jüngste EuGH-Urteil zur Flüchtlingsquote bestärkt fühlen.

Junckers Sanktionsmöglichkeiten sind allerdings begrenzt. Einen neuen Eisernen Vorhang in Europa möchte der Pragmatiker um jeden Preis vermeiden.

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