Zahra El Manari geht durch die Trümmer eines Hauses.

Jahrestags des Bebens in Marokko Leben zwischen Trümmern 

Stand: 08.09.2024 21:48 Uhr

Vor einem Jahr bebte im Atlas-Gebirge in Marokko die Erde. Die Schäden waren immens. Wie geht es den Menschen vor Ort? Überlebende beklagen den schleppenden Wiederaufbau.

Ein Moment kurz nach 23 Uhr am 8. September 2023 veränderte im Atlas-Gebirge das Leben vieler Menschen: Bei dem Erdbeben starben knapp 3.000 Menschen, etwa 300.000 werden obdachlos, 60.000 Gebäude zerstört oder beschädigt. Die Erschütterungen der Stärke 6,8 waren bis ins 70 Kilometer entfernte Marrakesch zu spüren. Doch während dort inzwischen wieder Touristen flanieren, leben die Menschen im Gebirge noch in Zelten.

"Unsere Sachen sind hier begraben, unser Alltag ist hier begraben. Was sollen wir tun?", fragt Zahra El Manari, während sie auf den Trümmern ihres Hauses steht. Vor einem Jahr war sie hier auf der Suche nach verschütteten Tieren. 17 Verwandte hatte sie in der Nacht des Bebens verloren, auch ihren Vater. Der kleine Ort Tafghaghate am Fuße des Atlas-Gebirges war ein Trümmerfeld aus Lehmziegeln und Habseligkeiten von Menschen, die gerade noch gegessen, geschlafen oder gebetet hatten. Fast die Hälfte der 240 Bewohner kam ums Leben. Bei Zahras Nachbarn sind jetzt halbfertige Mauern und Stahlträger zu sehen - es sind die Vorboten eines langsam wieder auferstehenden Dorfes.

Zahra El Manari

Zahra El Manari und ihre Familie waren schon vor dem Beben arm. Wenn nun die Zahlungen vom Staat enden haben sie gar nichts mehr, erzählt sie.

Die Zeltstädte sind noch da

Zahra lebt mit ihrem Mann Abdelrahim, ihrem 12-jährigen Sohn Yacine und ein paar Hühnern in einer Zelt-Konstruktion, aufgebaut aus den Hilfsgütern, die es direkt nach dem Beben gab. Die Planen sind vom Staat, ein privater Spender schenkte ihr einen Kühlschrank.

Kleider brachten kurz nach dem Beben zahlreiche Transporte hilfsbereiter Landsleute. Die Familie war - wie die meisten hier - schon vor dem Beben arm. Aber sie kamen zurecht mit dem Wenigen, waren zufrieden. "Wir haben die Kühe gehütet und die Milch verkauft", erzählt Zahra, "davon konnten wir leben. Wenn jetzt die Zahlungen vom Staat enden, haben wir nichts mehr." Bis September bekommen sie noch monatlich 2.500 Dirham, umgerechnet um die 230 Euro. Zahra betont, dass sie dem König für die Hilfen dankbar seien.

Wohnungsbau im Atlas-Gebirge

Nach Angaben des Königshauses haben fast 1.000 Familien die Arbeiten an ihren Häusern abgeschlossen. 1.000 von insgesamt knapp 60.000.

Die Hürden für den Wiederaufbau sind hoch

Auch für den Wiederaufbau ihres Hauses haben sie die erste Rate bekommen: 20.000 Dirham, etwa 1.850 Euro. Aber außer 70 Quadratmetern Fundament ist nichts zu sehen. Zum Weiterbauen reiche das Geld nicht, sagt Zahra. Sie warteten auf die nächste Zahlung. Nur, wer noch eigenes Geld habe, komme schneller voran.

Gerade erst hat die zuständige staatliche Kommission einen "bemerkenswerten positiven Fortschritt" beim Wiederaufbau anhand der "hohen Instruktionen seiner Majestät des Königs, Mohammed VI." festgestellt: 57.805 Familien hätten die erste von vier Raten für den Wiederaufbau bekommen, fast 1.000 Familien hätten die Arbeiten an ihren Häusern abgeschlossen. Das sind 1.000 von knapp 60.000 betroffenen Familien.

Entlang der Hauptroute ins Atlasgebirge liegen die Trümmer rechts und links der staubigen Straße an den Abhängen. Die beim Beben teils komplett verschüttete Straße wird mit staatlichen Mitteln erneuert. Der zentrale Platz der Kleinstadt Asni - vor einem Jahr ein riesiges Zeltlager mit Krankenhaus und Umschlagplatz für Hilfstransporte - ist wieder leer. Nach Regierungsangaben sind die neu aufgebauten Gesundheitszentren und Schulen inzwischen wieder in Betrieb - es ist ein Stück Normalität.  

Angst vor dem nächsten Winter in Zelten

Abdelrahim Amehdar arbeitet für die örtliche Hilfsorganisation "Afous Afous". Im Verhältnis zu den Ankündigungen des Staates gehe es sehr langsam voran, erzählt er. Die Menschen müssten häufig lange warten, bis ihre Anträge bearbeitet werden. Asni sei bekannt für kalte Winter mit viel Schnee, die Menschen hätten bereits einen harten Winter in Zelten hinter sich. "Wir erwarten, dass es vorwärts geht und der Staat seine Verantwortung übernimmt."

Amehdar berichtet von Demonstrationen bis in die ferne Hauptstadt Rabat, geändert habe sich dadurch aber nichts. Die Menschen rechneten mit mindestens einem weiteren Winter im Zelt. 

Deutsche Hilfsangebote zunächst zurückgewiesen

Rechts und links der Route ins damalige Epizentrum haben internationale Hilfsorganisationen Wohncontainer aufgestellt. Direkt nach dem Beben hatte Deutschland Marokko offiziell Hilfe angeboten, damals hatte das Königshaus abgewunken und nur von vier Ländern - Spanien, Großbritannien, Katar und von den Vereinigten Arabischen Emiraten - Akut-Hilfe angenommen. Private Helfer kamen trotzdem aus vielen Ländern. Und längst ist auch das deutsche Entwicklungsministerium am Start: mit Krediten an den Staat zum Wiederaufbau sowie mit Öfen und mit Projekten zur Sicherung der Wasserversorgung.

Caritas International kündigte jüngst an, die bisherigen Hilfen aufzustocken. Gernot Ritthaler, Katastrophenhilfe-Koordinator der Organisation, sagte tagesschau.de, die marokkanische Regierung habe einen "respektablen Job" gemacht, habe im Vergleich mit anderen von Katastrophen geplagten Ländern angemessen reagiert, wobei Vergleiche schwierig seien.

Gezielte Spenden für die Erdbeben-Opfer bekomme seine Organisation nicht mehr. Die Spendenbereitschaft lasse leider sehr schnell nach, berichtet Ritthaler, insbesondere bei "kleineren Katastrophen" wie dieser. "Zwei bis drei Wochen nachdem das Thema aus den Medien verschwindet, gibt es kaum noch Spenden".

Ein Hoffnungsschimmer in Tinmel

So nehmen es auch die Menschen vor Ort wahr. Etwa in Tinmel, wo eines der bedeutendsten Bauwerke Marokkos, eine Moschee aus dem 12. Jahrhundert, beim Erdbeben nahezu zerstört wurde. Ebenso wie die umliegenden Häuser. Cafebesitzer Mohamed Afraoui berichtet, es kämen maximal noch einmal im Monat internationale Helferinnen und Helfer vorbei. Trotzdem gibt er sich zuversichtlich: Die Moschee sei nicht nur ein spirituell äußerst bedeutsamer Ort, sie werde auch zukünftig wieder Touristen anlocken. Und dann könnten die Menschen auch wieder Geld verdienen. Ein Hoffnungsschimmer.

Doch etwa 15 Kilometer hinter Tinmel schimmert plötzlich nichts mehr. Hier lag das Epizentrum des Bebens. Dorthin kam vor einem Jahr kein Auto mehr, Akuthilfe bekamen die Menschen aus der Luft. Kurz vor dem Ort Amaskraghijjane stehen einige Männer auf der Straße, sprechen verzweifelt über alles, was fehlt: Wasser, Lebensmittel, Arbeit.

Ihr Dorf, wunderschön auf einem Hügel gelegen, ist nach wie vor ein rotbräunliches Trümmerfeld - schief ragt der gekippte Turm der Moschee daraus hervor. Es gibt keine einzige neue Mauer. Ein Jahr danach sieht es hier so aus, als habe die Erde erst gestern gebebt.

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