Die Ansprache des französischen Prösidenten, Emmanuel Macron, ist auf einer Leinwand in der Parteizentrale des Rassemblement National zu sehen.
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Neuwahlen in Frankreich Macrons gefährliche Selbstüberschätzung

Stand: 10.06.2024 09:25 Uhr

Dass Frankreichs Präsident Macron das Parlament auflöst und Neuwahlen ausruft, zeugt von Realitätsverlust, meint Julia Borutta. Dass er offenbar glaubt, die Verhältnisse könnten sich plötzlich ändern, ist gefährlich für das ganze Land.

Ein Kommentar von Julia Borutta, ARD Paris

Diese Wette ist völlig unverantwortlich. Emmanuel Macron wettet, dass die Wählerinnen und Wähler nur mal kurz mit dem Feuer spielen, sich einfach abreagieren wollten. Er setzt darauf, dass sie jetzt erschrocken aufblicken und sagen: Haben wir doch gar nicht so gemeint!

Das ist gefährlich für das ganze Land. Denn Macron eröffnet der extremen Rechten die Möglichkeit, binnen weniger Wochen den Premierminister zu stellen und dann in einer sogenannten Kohabitation (Anm. der Red.: Zusammenarbeit des Staatspräsidenten mit der Regierung einer anderen politischen Richtung) dem Präsidenten ihre Agenda zu diktieren.

Verführerische Lockrufe des Rassemblement

Wie kommt Macron darauf, dass diejenigen, die ihn bei der EU-Wahl abgestraft haben, bereit wären, seiner Partei bei Neuwahlen eine satte Parlamentsmehrheit zu verschaffen? Das zeugt von Selbstüberschätzung und Realitätsverlust.

Der Lockruf des Rassemblement tönt laut: Versucht es mit uns! Traut euch! Uns habt ihr noch nie ausprobiert: Essayez-nous! Das ist für sehr viele Menschen verführerisch. Und nicht nur das: Diese Parlamentswahlen könnten der Katalysator für das gesamte extrem rechte Spektrum in Frankreich werden, das zu tun, was ihnen bisher nicht gelungen ist - sich zusammenzuschließen.

Der Chef der Konservativen hat bereits angekündigt, nach den Wahlen keinesfalls als Partner für die Macron-Partei zur Verfügung zu stehen. Schließlich sei diese Partei verantwortlich für grassierende Unsicherheit und Kaufkraftverlust. Heißt wohl im Umkehrschluss, dass er sich ein Regierungsbündnis mit dem Rassemblement National durchaus vorstellen kann.

Horrorszenario für deutsch-französische Zusammenarbeit

Dasselbe könnte für die rechtsnationale Partei Reconquête gelten. Sie bekäme als Anhängsel des RN eine unverhoffte Chance mitzuregieren. Dieses extrem rechte Regierungsbündnis würde dann französisches Recht über EU-Recht stellen, Sozialleistungen nur für französische Familien beschließen, den Schengenraum mit einseitigen Kontrollen ad absurdum führen, aus dem Migrationspakt austreten, die EU-weite Strommarktregelung aufkündigen oder öffentliche Aufträge vorzugsweise an französische Unternehmen vergeben. Ein Horrorszenario auch und gerade für die deutsch-französische Zusammenarbeit.

Jetzt bleibt nur eins, um die Nationalisten zu stoppen: Diejenigen, die von Macron im Wahlkampf sträflich ignoriert wurden - die Parteien des linken Spektrums - müssen sich zusammentun. Denn nach dieser Nacht ist nicht mehr Macron das Bollwerk gegen die extrem Rechten, wie er es stets dargestellt hat, sondern die vereinigte Linke. Sozialisten, Grüne und linksradikale LFI - sie alle müssen über ihren Schatten springen und den Wählern mit einer einzigen linken Liste eine echte Alternative bieten. Sonst: Gute Nacht, Frankreich.  

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