Der Oberste Gerichtshof der USA.
Kommentar

US-Abtreibungsrecht Es steht viel Vertrauen auf dem Spiel

Stand: 03.05.2022 18:31 Uhr

Sollte das Oberste US-Gericht das Grundsatzurteil zu Abtreibungen tatsächlich aufheben, hat das nicht nur Folgen für das Selbstbestimmungsrecht der Amerikanerinnen. Es erschüttert auch die Glaubwürdigkeit des Gerichts.

Ja, es ist nur ein Entwurf, ein Positionspapier. Meinungen können sich ausdifferenzieren, Begründungen nachjustiert werden. Aber egal, wie sich die Mehrheit des Gerichtshofes am Ende entscheidet: Dieser Entwurf und die Tatsache, dass er die Öffentlichkeit erreicht hat, löst ein schweres Erdbeben aus, das tiefe Folgen für die USA und ihre Menschen hat.

Nehmen wir die Frauen: Seit fast 50 Jahren können sie weitgehend selbst entscheiden, ob sie ein Kind zur Welt bringen wollen oder nicht - bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Fötus außerhalb ihres Körpers überleben könnte. Ein Urteil des Obersten Gerichtshofes lieferte das Fundament dazu.

Offenbar hält eine konservative Mehrheit des Supreme Court dieses Urteil "Roe v. Wade" für grob falsch. Sie plant, so wird berichtet, die politische Entscheidung an die Bundesstaaten zurückzugeben, was die Amerikanerinnen unmittelbar spüren würden. Denn viele Staaten stehen bereit, Abtreibungen sofort komplett zu verbieten oder deutlich einzuschränken. Das Recht auf Selbstbestimmung hinge dann von den finanziellen Mitteln einer Frau ab, davon, ob sie genug Geld besitzt, in einen anderen Bundesstaat mit anderer Rechtslage zu reisen.

Vertrauen in den Rechtsstaat steht zur Debatte

Nehmen wir den Gerichtshof selbst: Sechs der neun Richterinnen und Richter sind Konservative, drei von ihnen sind gerade frisch vom damaligen Präsidenten Trump nominiert worden. Alle drei haben in ihren Anhörungen betont, dass sie frühere Urteile des Gerichtshofes grundsätzlich respektieren. Eine wichtige Aussage, denn ein Oberstes Gericht darf nicht alle paar Jahre ältere Urteile revidieren, sonst ist seine Glaubwürdigkeit und Integrität in Gefahr.

Aber nun ist offenbar eine Mehrheit des Gerichtshofes bereit, dieses richtungsweisende, etablierte Urteil zu kippen. Sind jetzt auch andere frühere Urteile in Gefahr, zum Beispiel das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe? Das sei nicht der Fall, heißt es angeblich in dem durchgestochenen Papier. Aber: Wer will sich auf den Gerichtshof dann noch verlassen?

Und was ist mit den Richterinnen und Richtern? Nur ein kleiner Kreis von Menschen hatte Zugang zu diesem Papier. Wer hat es weitergegeben? Ein Richter oder eine Richterin etwa? Wie sollen sie sich untereinander und ihren Mitarbeitern noch vertrauen?

Top-Wahlkampfthema Abtreibung

Und dann ist da noch die politische Landschaft: Gerade beginnen in den Bundesstaaten die Vorwahlen für die Midterms im November. In vielen Staaten werden neue Spitzenleute gesucht, Gouverneurinnen und Gouverneure etwa. Was immer den Wählerinnen und Wählern bisher wichtig war: Das Thema Abtreibung wird ab sofort ganz oben stehen und sie mobilisieren, egal zu welchem politischen Lager sie gehören.

Abtreibung ist ein Thema, das die Menschen in den USA aufwühlt und bei dem es für viele keinen Raum für Kompromisse gibt. Nun drohen zu allem Übel auch noch eine politische Schlammschlacht und der Verlust des Vertrauens ins Oberste Gericht. Und was das Allerschlimmste ist: Präsident Joe Biden hat nicht die politische Kraft, hier als Versöhner zu wirken.