Kommentar

Wahl des EU-Kommissionschefs EU-Parlament hat sich selbst geschwächt

Stand: 25.06.2019 15:41 Uhr

Mit großen Ansprüchen ist das EU-Parlament in die Wahl gestartet. Das Auswahlverfahren zum EU-Kommissionspräsidenten zeigt: Davon ist nicht viel geblieben.

Was war das für eine Wucht, mit der das Europäische Parlament sich vor der Europawahl präsentiert hat. Vor allem den Menschen in der Europäischen Union gegenüber: nämlich als im Grunde genommen einzige EU-Institution, die das Konstrukt des Europa der 28 - so viele sind es ja noch - in seiner Gesamtheit demokratisch legitimiert. Wer zur Wahl geht, so das starke Credo, stimmt darüber ab, wie es mit Europa in Zukunft weitergeht, mit den großen Fragen: Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit, digitale Revolution, überhaupt, die Rolle Europas in einer zunehmend zerrissenen und krisengeplagten Welt, in der einige mehr oder weniger unberechenbare Staatenlenker ihre Interessen offenbar um jeden Preis durchsetzen wollen.

Europa kann dagegen halten, wenn es zusammen steht, vielleicht als letzter großer glaubwürdiger Akteur auf diesem Globus. Und die Menschen sind zur Wahl gegangen - so viele wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Sie haben die Botschaft gehört - und sie konnten ja tatsächlich etwas entscheiden: Geht es ihnen um mehr Klimaschutz, mehr um das Soziale oder doch ums Nationale. Für alles finden sich ja im politischen Spektrum Angebote, manchmal zweifelhafte, aber so ist das in der Demokratie.

Spitzenkandidatenprinzip: einst Machtmittel des Parlaments

Und um dieses Demokratische zu unterstreichen, hat das Europäische Parlament bei alledem auf ein Prinzip gesetzt, mit denen es den Regierungschefs aus den Mitgliedsstaaten auch dieses Mal beweisen wollte, wer in der EU die Richtung vorgibt: nicht sie im Europäischen Rat. Deshalb das Spitzenkandidatenprinzip, also jene Forderung, dass nur Spitzenkandidaten bei den Europawahlen das Spitzenamt der Europäischen Union bekommen können: die Präsidentschaft der EU-Kommission.

Die Zeiten waren mal übersichtlicher in Brüssel

Damit fing die Malaise an, auch wenn schon der scheidende Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Spitzenkandidat war - vor fünf Jahren. Aber damals konnte man sich vergleichsweise leicht einigen, weil die Christdemokraten und die Sozialdemokraten im Europaparlament zusammen über eine stabile Mehrheit verfügten. Und so bekam schließlich der Christdemokrat Juncker die Kommission und der Sozialdemokrat Schulz blieb Parlamentspräsident. Damit konnten alle leben, auch die Staats- und Regierungschefs. Lange her. Jetzt aber steht das Europaparlament vor dem Scherbenhaufen des von ihm ausgerufenen Spitzenkandidatenprinzips.

Denn es ist ja letztlich nichts weiter als eine politische Forderung. Die EU-Verträge sichern immer noch den Staatschefs das Vorschlagsrecht für die Person an der Kommissionsspitze zu. Dieser Mensch braucht dann aber auch eine Mehrheit im EU-Parlament. Warum sollten aber die EU-Parlamentarier jemanden wählen, der eben nicht das ist, wofür sich zumindest die meisten von ihnen immer stark gemacht hatten: Spitzenkandidat.

Absurd: EU-Parlament gegen Mitgliedstaaten gegen EU-Parlament

Man erlebt also gerade einen Machtkampf zwischen Parlament auf der einen und Regierungschefs auf der anderen Seite. Aber: Man erlebt auch einen Machtkampf im Parlament selbst. Denn es gab ja zwei Spitzenkandidaten - Manfred Weber für die EVP und Frans Timmermanns für die Sozialdemokraten - und später kam dann irgendwie auch noch eine Dritte ins Spiel: Margrethe Vestager für die Liberalen.

Und von allen politischen Gruppen heißt es: Sie alle wollen ihren Mann oder ihre Frau an der Kommissionsspitze sehen und sind deshalb völlig über Kreuz - auch inhaltlich. So steht das Europaparlament den Mitgliedsstaaten gegenüber sich selbst im Weg. Weil es derzeit keinen erkennbaren Ausweg aus dieser Machtfragen-Zwickmühle gibt.

Was zählt: Hausmacht oder Inhalte?

Eine Kerbe, in die Europas Staats- und Regierungschefs nur allzu gern hinein schlagen. Vor allem die, die sowieso nie etwas vom Spitzenkandidatenprinzip gehalten haben - Emmanuel Macron ist da längst nicht der einzige. Trotzdem ist das enttäuschend. Zum einen, weil das Parlament Gefahr läuft, sich am Ende wieder jemanden vorsetzen lassen zu müssen, auf den man sich in Hinterzimmern verständigt hat - und zum anderen, und das ist viel schlimmer, weil der große inhaltliche Anspruch, den man vor der Europawahl gezeichnet hat - die großen Fragen und mögliche Antworten - dabei auf ein kümmerliches Häuflein zusammen schrumpft, ganz nach dem Motto: Erst kommt die Macht - und später dann der Rest… Für Europa ist das alles andere als eine vielversprechende Richtung.

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