Markus L.
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Schüsse auf Polizisten in Reutlingen "Wenn Du Frieden willst, bereite den Krieg vor"

Stand: 03.06.2024 06:13 Uhr

Im Prozess gegen die "Gruppe Reuß" in Stuttgart geht es nun vor allem um Schüsse auf Polizisten bei einer Durchsuchung in Reutlingen. Der Generalbundesanwalt geht von versuchten Morden aus. Eine Rekonstruktion der Abläufe.

Von Holger Schmidt und Michael Götschenberg, ARD-Terrorismusexperten

Eigentlich hätte es an diesem Mittwoch im schwäbisch-beschaulichen Reutlingen nur um eine Wohnungsdurchsuchung gehen sollen. In den frühen Morgenstunden des 22. März 2023 bereiten sich mehr als ein Dutzend Beamtinnen und Beamte unterschiedlicher Polizeidienststellen auf den Einsatz vor. Es sind Kriminalbeamte, aber auch zwei Hundeführer und Sprengstoffexperten.

Ihr Ziel ist die Wohnung eines weiteren Beschuldigten im Komplex um den mutmaßlichen Staatsstreich von Heinrich XIII. Prinz Reuß. Die Ermittler wissen schon vor dem Einsatz, dass der beschuldigte Mann einige Waffen in seiner Wohnung hat: Konkret 22 Waffen und 15 Waffenteile sind bei der Waffenbehörde der Stadt Reutlingen auf ihn registriert. Weitere, illegale Waffen werden befürchtet.

Deshalb ist neben Bundeskriminalamt und Landeskriminalamt auch das Spezialeinsatzkommando (SEK) der Polizei Baden-Württemberg vor Ort. Der Plan: Die Elitepolizisten sollen den ersten Zugriff machen und die Wohnung sichern, danach soll die Durchsuchung beginnen.

Ein Haftbefehl gegen den damals 46-jährigen Markus Peter L. liegt nicht vor, deshalb ist auch kein Vertreter des Generalbundesanwalts vor Ort. Eigentlich ist es ein vergleichsweise normaler Einsatz in dem riesigen Ermittlungsverfahren rund um die "Gruppe Reuß". Doch nur Sekunden nach Einsatzbeginn fallen Schüsse. Der Zugriff eskaliert.

Hinterhalt aus Schreibtischstuhl und Sturmgewehr

Offensichtlich hat Markus L. mit einer Durchsuchung gerechnet und ist nicht bereit, sie hinzunehmen. Was nun passiert, wird in der Hauptverhandlung vor dem Oberlandesgericht Stuttgart in den kommenden Wochen ausführlich erörtert werden. Am Ende werden die fünf Richterinnen und Richter ein Urteil dazu fällen.

Bis dahin sind die Erkenntnisse der Polizei zu den Abläufen vorläufig und für Markus L. gilt die Unschuldsvermutung. Recherchen des SWR und des ARD-Hauptstadtstudios zeigen allerdings: Aus Sicht der Polizei und des Generalbundesanwalts lassen sich die Abläufe minutiös rekonstruieren. Demnach ist es Markus L., der auf die vorrückenden Beamten schießt. Offensichtlich hat er sie erwartet - und sich intensiv vorbereitet.

Ein Teil des Waffenarsenals im Keller von Markus L.

Ein Teil des Waffenarsenals im Keller von Markus L.

Eine geladene Pistole mit Ziellampe habe er nachts im Schlaf unter seinem Kopfkissen liegen gehabt, rekonstruieren die Ermittler. Ein Gewehr habe, ebenfalls geladen, griffbereit an der Tür gestanden. Aus einem rollbaren Schreibtischstuhl und einer darüber gehängten Schutzweste habe er sich eine Art mobile Deckung gebaut.

Mindestens 26 Schüsse

Offensichtlich sei er vom Aufsprengen der Tür durch das SEK und die Rufe "Polizei!" so schnell wach geworden, dass er zu den Waffen und in Deckung gegangen sei. Es beginnt ein Schusswechsel, der von den Helmkameras der SEK-Beamten und von einer Drohne der Polizei vor dem Haus aufgezeichnet wird. Mindestens 26 Schüsse fallen in den kommenden Minuten.

Wer den ersten Schuss abgibt, bleibt unklar. Als alles vorbei ist, findet die Spurensicherung zehn Hülsen einer Waffe, die L. zugerechnet wird und sechzehn Hülsen von Polizeiwaffen.

Zwischen den Schüssen rufen die Polizisten Markus L. zu, er solle sich zeigen und ergeben. L. antwortet offenbar "Zieht Euch zurück - oder ich schieße". Die Polizisten bezeichnen seinen Tonfall als "ruhig". Es sind Szenen wie in einem Actionfilm. "Markus, gib auf!", sollen die Polizisten gebrüllt haben, erzählen Anwohner.

Auf Seiten des SEK steht der Beamte "Nr. 6" ganz vorne in der Wohnung. Die Beamten der Spezialkräfte haben zum Schutz ihrer Identität im Ermittlungsverfahren Nummern zugeteilt bekommen. Versetzt hinter Nr. 6 steht der Beamte Nr. 11.

Weiter hinten kommen unter anderem Nr. 2, der Einsatzleiter und Nr. 9, der Sanitäter der Einheit. Alle suchen nach Markus L., der nur zu hören, aber nicht zu sehen ist. Plötzlich schießt er durch eine geschlossene Zimmertür.

Nr. 6 wird schwer verletzt

Als die ersten Schüsse fallen, bemerkt Polizist Nr. 6 Einschläge auf seinem Schutzschild. Hinterher findet die Spurensicherung vier Treffer auf dem Schild dicht nebeneinander in Brusthöhe des Beamten. Eine weitere Kugel prallt seitlich vom Schild ab. Ein Geschoss trifft Nr. 6 in den Ellenbogen, er lässt seine Waffe fallen. Vorher hat er offenbar achtmal selbst geschossen.

Ärzte bezeichnen die Verletzung des Polizisten Nr. 6 später als potenziell lebensgefährlich, der Beamte verliert viel Blut. Doch er kann sich selbst in Sicherheit bringen und läuft durch das Treppenhaus ins Erdgeschoss. Dort übernimmt Beamter Nr. 9 die erste Versorgung.

Er legt seinem Kollegen ein Tourniquet an, einen speziellen Druckverband, der vor allem bei Soldaten zum Einsatz kommt und schwere Blutungen schnell stoppen kann. Nr. 6 kommt ins Krankenhaus und wird operiert. Er überlebt, seine Heilung verläuft gut, er wird aber wohl nie wieder im SEK arbeiten können.

Oben in der Wohnung wird unterdessen auch der Beamte Nr. 11 am Finger verletzt. Markus L. schoss in Tötungsabsicht, so bewertet der Generalbundesanwalt später die Situation.

Uniform im Keller von Markus L.

Traum vom Kaiserreich? Uniform im Keller von Markus L.

Großeinsatz in Reutlingen

Draußen vor dem Wohnblock entsteht derweil Hektik. Die auf die Durchsuchung wartenden Kriminalbeamten von BKA und LKA improvisieren zunächst eine äußere Absperrung des Hauses, stellen ihre Autos in den Weg. Niemand soll in Gefahr kommen - und niemand soll dem Schützen zu Hilfe eilen können.

Zusätzliche Kräfte der Polizei Reutlingen und der Bereitschaftspolizei werden alarmiert. Immer wieder sind Schüsse aus dem Haus zu hören. Notarzt und Rettungsdienst sowie weitere Polizeikräfte treffen nach und nach ein.

In der Wohnung entscheidet sich das SEK zunächst zu einem taktischen Rückzug. Mit einer Ramme wird die Tür zur Nachbarwohnung aufgebrochen, dort suchen die Polizisten Deckung. Markus L. rufen sie zu, er solle sich ergeben. Die anderen Wohnungen des Hauses werden evakuiert.

Markus L. braucht Bedenkzeit. Rund 30 Minuten später tritt er dann ohne Waffen aus seiner Wohnung. Er zieht sich auf Anweisung des SEK aus und lässt sich festnehmen. Auf seinem Oberschenkel entdecken die Beamten ein großes Tattoo, ein lateinischer Satz in Frakturschrift: "Si vis pacem para bellum". Übersetzt: "Wenn Du Frieden willst, bereite den Krieg vor".

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