Fethullah Gülen
Exklusiv

Gülen-Bewegung Aussteiger sprechen über Geheimorganisation

Stand: 04.07.2022 15:11 Uhr

Aussteiger und Anhänger erheben schwere Vorwürfe gegen die Gülen-Bewegung. In Interviews mit dem SWR sprechen sie von einer Geheimorganisation innerhalb des Netzwerks und nachrichtendienstlichen Methoden.

Von Stefanie Schoene und Ahmet Şenyurt, SWR

In Deutschland präsentiert sich die türkische Gülen-Bewegung als Netzwerk, das sich für Menschenrechte und Demokratie stark macht. Statt Moscheen unterhält sie Bildungsvereine. In der Türkei - das legen SWR-Recherchen nahe - soll die Bewegung nachrichtendienstliche Mittel eingesetzt und Anhänger unter Druck gesetzt haben. Aussteiger und aktive Gülen-Anhänger erheben schwere Vorwürfe.

"Wir haben eine geheime Agenda. Wir haben ein System der Überwachung etabliert, das sehr systematisch und geplant im Einsatz ist", sagte etwa Vahdettin Polat dem SWR. Polat war nach eigenen Angaben zwölf Jahre lang bis 2016 Mitglied einer geheimen Überwachungseinheit innerhalb der Gülen-Bewegung. Ihr Name ist "Hususi Hizmet", auf Deutsch Sonder- oder Spezialdienst. Diese Einheit soll wichtige Institutionen des türkischen Staates mit treuen Anhängern unterwandert haben. Polat ist der erste hochrangige Ex-Gülen-Anhänger, der einem deutschen Medium von der Geheimorganisation berichtet.

"Ich hatte die Aufgabe, mich mit den Militärs zu treffen, mich um sie zu kümmern, mir ihre Probleme anzuhören, sie regelmäßig zu besuchen. Das war eine Art von religiöser Führung." Auf die Frage, wie "Hususi Hizmet" generell vorgeht, erklärt Polat: "Wir sprechen von einer Struktur, die nach klassischen Geheimdienstmethoden arbeitet."

Er habe inzwischen mit der Bewegung gebrochen, sagt Polat. Er wurde nach dem Putschversuch 2016 in der Türkei, hinter dem die Gülen-Bewegung stehen soll, verhaftet. Er machte eine umfassende Aussage. 2019 verurteilte ihn ein Istanbuler Gericht wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Vereinigung zu 16 Jahren Haft. Polat ging in Berufung. Da das Urteil, das dem SWR vorliegt, noch nicht rechtskräftig ist, ist er auf freiem Fuß.

Vom Unterstützer zum Gegner

Die Gülen-Bewegung und Präsident Recep Tayyip Erdogan waren nicht immer Gegner. Als Erdogan 2002 Ministerpräsident wurde, unterstützte ihn der Prediger Fethullah mit seinem Netzwerk. Zum offenen Bruch kam es 2013, als Polizisten und Staatsanwälte, die Gülen nahestanden, wegen Korruption gegen Erdogans Familie und das Kabinett ermittelten. Erdogan schlug mit Strafversetzungen dieser Beamten zurück. Wenige Wochen vor dem Putsch 2016 erklärte Erdogan, damals seit zwei Jahren Staatspräsident, seine ehemaligen Verbündeten zur Terrororganisation.

Als Teile des Militärs im Jahr 2016 einen Putschversuch unternahmen, sollen Gülen-Anhänger beteiligt gewesen sein, so die Regierung. Auch Günter Seufert, Leiter der Forschungsgruppe Türkei der Stiftung Wissenschaft und Politik, sieht "eine Reihe von Indizien dafür, dass dies tatsächlich der Fall gewesen ist". Die Gülen-Bewegung selbst bestreitet das.

Massenverfolgung der Gülen-Anhänger

Nach dem Putschversuch begann eine Massenverfolgung der Gülen-Anhänger, die bis heute andauert. Bei den hunderttausenden Verfahren bleiben rechtsstaatliche Grundsätze oft außer Kraft gesetzt. Offiziellen Zahlen zufolge leiteten die Staatsanwaltschaften gegen 500.000 Menschen Ermittlungen ein, 28.000 Menschen sitzen in Haft, 120.000 Beamte und Angestellte wurden mit einem Betätigungsverbot aus dem öffentlichen Dienst entlassen.

Nach Auffassung türkischer Gerichte rekrutierte die Gülen-Bewegung in ihren Bildungseinrichtungen Jugendliche und bildete sie als Spitzel aus, um sie im Militär und anderen Institutionen der Türkei in Stellung zu bringen.

Dies schildern allerdings auch Insider dem SWR. Zudem beschaffe und nutze die Gülen-Bewegung gezielt Informationen über ihre Anhänger und setze sie unter Druck - auch in Deutschland. Polat sagt, Verantwortliche des "Hususi Hizmet" hätten sich frühzeitig ins Ausland abgesetzt und lebten nun in Europa, auch in Deutschland. Die Organisation nutze die Freiheiten und Freiräume der demokratischen Gesellschaften.  

In Deutschland aktiv

Der Politikwissenschaftler und Jurist Önder Aytaç ist ein prominenter Vertreter der Gülen-Bewegung. Seit 2019 lebt er in Deutschland. Früher war er stellvertretender Leiter der Polizeiakademie in Ankara und Antiterror-Berater im türkischen Innenministerium. Aytaç kennt Gülen seit seiner Kindheit persönlich.

Mit Aytaç spricht zum ersten Mal ein prominenter Anhänger der Bewegung über seine Befürchtung, geheime Einheiten der Bewegung könnten auch in Deutschland aktiv sein. Er ist überzeugt: "Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa und anderen Teilen der Welt haben die Anhänger diese Strukturen aufgebaut und versuchen, sie weiter zu betreiben." Aytaç warnt aber auch vor einem Generalverdacht. Er schätzt, dass der Anteil der geheimen Hususi-Einheiten an der gesamten Organisationsstruktur der Gülen-Bewegung bei fünf Prozent liegt.

Die Gülen-Bewegung weitete Ende 1980er-Jahre ihr Netzwerk nach Deutschland aus. 150.000 Deutsch-Türken sollen heute dazu gehören. Sie betreiben nach eigenen Angaben etwa 300 Vereine, Stiftungen, 22 Schulen, etwa 3000 Unternehmen sowie mehrere Nachrichtenportale, Verlage und andere Medien.

Bei wichtigen Veranstaltungen trifft man auf hochrangige Vertreter, zuletzt bei der Wahl des Bundespräsidenten im Februar: Ercan Karakoyun ist Vorstandsvorsitzender der Stiftung Dialog und Bildung in Berlin, die sich in Berlin als Hauptbotschafterin Gülens versteht. Er twitterte ein Foto, das ihn zusammen mit Frank-Walter Steinmeier zeigt.

Ihre Bekenntnisse zu Transparenz und Demokratie kämen in Deutschland gut an, sagt Friedmann Eißler, Islambeauftragter der Evangelischen Landeskirche Baden-Württemberg. Seit mehr als 20 Jahren beschäftigt er sich mit der Gülen-Bewegung und steht in Kontakt mit Funktionsträgern der Stiftung. "Das, was wir von der Gülen-Bewegung nach außen sehen, das sind ja smarte, junge Leute, die jetzt hier partizipieren an der Gesellschaft. Sich Dialog und Bildung auf die Fahnen schreiben. Und das ist das, was wir wünschen von den Menschen mit dem sogenannten Migrationshintergrund."

"Autoritäre Strukturen"

Der Islamwissenschaftler Florian Volm hatte während seinen Forschungen Zugang zu Funktionären der Gülen-Bewegung in Deutschland und beschreibt "autoritäre Strukturen". Seinen Erfahrungen nach gehe es intern nicht darum, die Basis der Bewegung in Entscheidungsprozesse miteinzubeziehen oder Ideen und Lösungsvorschläge aufzunehmen. "Es geht darum, dass man unten Leute hat, Kinder, Jugendliche, Männer, Frauen, die einfach das umsetzen, was der Kader oben beschließt."

In Deutschland klagen Interviewpartner über eine rigide Geschlechtertrennung, Personenkult sowie Kontrolle in Wohnheimen und anderen Einrichtungen der Bewegung. Der SWR konfrontierte die Stiftung Dialog und Bildung dazu und zu weiteren Aspekten mit zwei Anfragen innerhalb von sechs Wochen. Doch die 18 Fragen zu den Recherchen und Vorwürfen bleiben unbeantwortet. Alle, die mit dem SWR sprachen, wünschen sich von der deutschen Gesellschaft weniger Naivität und mehr Wachsamkeit im Umgang mit der Gülen-Bewegung.

Deutsche Sicherheitsbehörden sagen dem SWR, dass sie im Zusammenhang mit der Gülen-Bewegung aktuell keinen Grund zur Besorgnis sehen.

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