Die Jacht "Andromeda" liegt in einem Trockendock in Dranske auf der Insel Rügen.
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Nord-Stream-Anschläge Neue Liste aus Polen gibt Rätsel auf

Stand: 09.10.2023 13:07 Uhr

Polen hat Deutschland nach Informationen von ARD, SZ und "Zeit" offenbar eine Liste mit russischen Namen übergeben - steckt also doch Moskau hinter den Explosionen der Nord-Stream-Pipelines? In Berlin soll man weiter skeptisch sein.

Von Manuel Bewarder, Florian Flade, Michael Götschenberg, Georg Heil und Holger Schmidt, ARD

Es waren nur noch wenige Tage bis zum Jahrestag der Anschläge auf die Nord-Stream-Pipelines. Noch immer gab es keinen Haftbefehl, noch immer lief das Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt. Mehrere Spuren zeigten zwar zu Personen in der Ukraine. Viel mehr hatte man aber nicht in der Hand. Dann plötzlich, wie aus dem Nichts, übermittelten polnische Geheimdienstler Deutschland offenbar eine Liste mit Namen - darunter auch mehrere russische. War jetzt doch alles anders? 

Die deutschen Sicherheitsbehörden haben sich im September daran gemacht, die neuen Informationen zu überprüfen und einzuschätzen, wie ARD, "Süddeutsche Zeitung" (SZ) und "Zeit" erfahren haben. Polen meldete offenbar, man habe Teile der Crew an Bord einer Jacht identifiziert, die von Sicherheitsbehörden mit dem Anschlag in Verbindung gebracht wird.

Mehrere Männer, die zumindest teilweise auf der Segeljacht "Andromeda" gewesen sein sollen, würden die russische Staatsbürgerschaft besitzen. Der polnische Geheimdienst spekuliere zudem, dass mehrere Personen Verbindungen zum russischen Militärgeheimdienst pflegen könnten.

Deutsche Behörden eher skeptisch

Die Einschätzung der deutschen Beamten lautete der Recherche zufolge dagegen schnell: Vorsicht bei dieser Liste. Sie ändere im Grunde nichts an den bisherigen Ermittlungsergebnissen, die weiter vor allem in Richtung Ukraine deuteten. 

Am Wochenende hatte die "Welt am Sonntag" zuerst von der Liste berichtet. Das Dokument liege dem Bundesnachrichtendienst (BND) und weiteren Sicherheitsbehörden vor, berichtete die Zeitung. Deutsche Ermittler würden die Hinweise mit Vorsicht betrachten - sie vermuteten polnische Desinformation im gerade laufenden Wahlkampf dahinter. 

Polnische Ermittler glauben nicht an "Andromeda"-Theorie

Bekannt ist: Polen und Deutschland deuten die bisherigen Ermittlungsergebnisse rund um die Sabotage oftmals unterschiedlich. Im Zentrum steht dabei die "Andromeda". In Berlin ist man überzeugt, dass das Boot eine Rolle bei den Anschlägen gespielt hat: Mitte September hatte Generalbundesanwalt Peter Frank im Bundestag erklärt, dass das Schiff nach Ansicht der Ermittler etwas mit der Ausführung der Tat zu tun gehabt habe.

Bei der Identifizierung der Crew sei man aber noch nicht weit vorangeschritten - der Skipper hatte beispielsweise einen gefälschten bulgarischen Pass mit dem Namen "Mihail Popov" vorgelegt.  

Für Warschau wiederum spielt das Schiff laut offiziellen Aussagen keine große Rolle. Der polnische Staatssekretär Stanislaw Zaryn, zuständig für die Koordination der Geheimdienste seines Landes, erklärte vor wenigen Wochen gegenüber ARD, SZ und "Zeit", Polen habe "keine Spuren der Beteiligung dieser Jacht an den Ereignissen gefunden". Die Fahrt habe einen "rein touristischen Charakter" gehabt.

Bei der Kontrolle der Crew durch polnische Behörden im September 2022 im Hafen Kolberg sei niemand aufgefallen, "der nur im Ansatz eine militärische oder sabotagebezogene Ausbildung hätte". Worauf er diese Erkenntnisse stützte, sagte er nicht. Zaryn erklärte zudem, die Sabotage würde am ehesten zu Russland passen. 

Gab es Aufnahmen der Crew?

Deutsche Ermittler blicken mit Skepsis auf die Aussagen aus dem Nachbarland. Bei einem Treffen mit polnischen Kollegen im Mai soll das Misstrauen groß gewesen sein. Ein Grund: Die deutschen Beamten vermuten, dass die verdächtige Crew des Segelboots beim Stopp im Hafen von Kolberg nicht nur kontrolliert, sondern auch per Video aufgenommen wurde. Entsprechende Aufnahmen sollen die Deutschen bislang aber nicht übergeben bekommen haben.  

In Ermittlerkreisen und in der Bundesregierung hält man es deshalb für möglich, dass die jetzt von Polen übermittelte Liste das Ziel habe, eine russische Spur zu betonen. Wie ARD, SZ und "Zeit" erfahren haben, sollen polnische Nachrichtendienstler im Zuge der Übermittlung der Liste mit den russischen Namen den Eindruck erweckt haben, dass sie trotz der neuen Hinweise in Richtung Russland weiterhin davon ausgehen, dass die Vorbereitung der Sabotage wohl durch Ukrainer erfolgt sei. 

False-Flag-Operation weiterhin nicht ausgeschlossen

Deutsche Beamte blicken offenbar auch deshalb skeptisch auf die Liste, weil sie wohl mehrere der nun übermittelten Informationen bereits zuvor gekannt und überprüft hatten - ohne dadurch entscheidende Fortschritte bei den Ermittlungen zu erzielen. Selbst wenn Russen an Bord der Jacht gewesen seien, ließe das wohl kaum einen Rückschluss auf die Auftraggeber zu. Die These, dass der Anschlag eventuell unter falscher Flagge ausgeführt wurde, eine so genannte False Flag, wird weiterhin nicht ausgeschlossen.

Die russischen Behörden etwa haben mehrfach auf einen vereitelten Anschlag auf die Turkstream-Pipelines wenige Tage vor den Explosionen bei Nord Stream hingewiesen. Ein mit der Ausführung beauftragter Mann sei damals festgenommen worden - ein Russe, angeworben vom ukrainischen Geheimdienst. Belege dafür lieferte Russland auf Nachfrage bis heute jedoch nicht.