Ein Traktor beim Ausbringen von Pestiziden.
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Studie zu Umweltgiften Nahezu kein Ort mehr ohne Pestizide

Stand: 29.09.2020 09:58 Uhr

Laut einer Studie verbreiten sich ausgebrachte Pestizide weiter als angenommen. In Deutschland dürfte es keine unbelasteten Orte mehr geben, so die Forscher. Biobauern befürchten Konsequenzen.

Von Heidi Mühlenberg und Denis Kliewer, MDR

Das bisher umfangreichste Messprogramm für luftgetragene Pestizide in Deutschland hat beunruhigende Daten zu Tage gefördert. "Das Hauptergebnis unserer Studie ist, dass man in Deutschland höchstwahrscheinlich keine Standorte mehr ohne Pestizide findet. Selbst im Bayerischen Wald - und der Standort war mitten im Nationalpark - haben wir fünf Pestizide gefunden", so die leitende Wissenschaflerin Maren Kruse-Plass, Biologin beim Ingenieurbüro TIEM-Integrierte Umweltüberwachung, gegenüber dem ARD-Magazin Fakt.

Dr. Maren Kruse-Plass, Biologin beim Ingenieurbüro TIEM-Integrierte Umweltüberwachung, beim Aufstellen einer Messstation.

Die Biologin Kruse-Plass (rechts) hat die Belastungen bundesweit an 163 Standorten gemessen.

Für das Projekt wurden zwischen 2014 und 2019 an 163 Standorten in ganz Deutschland Messungen durchgeführt. Insgesamt wurden in allen Proben 152 Wirkstoffe nachgewiesen, 138 davon stammen aus landwirtschaftlichen Quellen. Davon wiederum sind rund 30 Prozent in der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr zugelassen.

Verbreitung nicht nur beim Spritzen

Dabei verbreiten sich die Pestizide nicht nur über sichtbare Abdrift von Sprühtröpfchen beim Ausbringen auf die Felder, sondern auch auf unsichtbaren Wegen. Wenn die Spritzmittel trocknen, gelangen Teile davon als Gase in die Luft, können sehr leicht durch den Wind aufgenommen und so auch über weite Strecken transportiert werden.

Andere Spritzmittel gasen weniger aus. Dafür verbinden sie sich fest mit den Bodenpartikeln. Bei Dürre, Starkwind oder beim Bearbeiten der Felder wirbeln auch sie weit nach oben. "Und sehr feine Bodenpartikel sind ähnlich wie Gase, können in die höheren Atmosphären kommen, weil sie sehr leicht sind und der Wind sie mitnehmen kann", so Kruse-Plass.

Pestizide am Nordpol

Geophysiker, die mit Zeppelin und Satellit, mit Laserstrahl und Luftfiltern die Atmosphäre erkunden, machten ähnliche Entdeckungen. Sie fanden neben Partikeln natürlichen Ursprungs auch Pestizide selbst in menschenleeren Gebieten. Dieser Ferntransport ist das Forschungsfeld von Gerhard Lammel, Chemiker am Max-PIanck-Institut für Chemie in Mainz und an der Masaryk-Universität im tschechischen Brno. "Die jetzt zugelassenen Pestizide wurden im letzten Jahrzehnt vermehrt an Orten wieder aufgefunden, wo sie eigentlich nicht ankommen dürften, nämlich fernab der Ausbringungsgebiete, etwa über der zentralen Nordsee, über Nordgrönland oder auf Spitzbergen."

Die feinen toxischen Partikel wurden im Gletschereis und in der Atmosphäre über dem Nordpol gefunden. Sie gelangen aber auch in Reinstluftgebiete und Naturlandschaften, in denen Menschen Urlaub machen. Sie sinken und werden erneut aufgeweht, ob Monate oder Jahre lang, ist unbekannt.

Biolandwirtschaft geschädigt

Das ist vor allem für Biobauern ein großes Problem: Imker Sebastian Seusing hat 2019 vier Tonnen Honig verloren, die gesamte Jahresernte. "Die Bienen standen an einem Acker, wo Löwenzahn geblüht hat", erzählt Camille Hoonaert von der Imkerei Seusing. "Da wurde in der Vollblüte bei gutem Wetter gespritzt, und zwar das Totalherbizid Glyphosat." Im Ergebnis war ihr Honig bis zum 152-fachen des Grenzwerts belastet - ein Schaden von 60.000 Euro. Die Imkerei hat inzwischen den Betrieb aufgegeben.

Bio-Imker Sebastian Seusing demonstriert im Januar 2020 vor dem Bundeslandwirtschaftsministerium mit seiner durch Glyphosat belasteten Honigernte.

Bio-Imker Seusing musste seinen Betrieb aufgeben.

Forderung nach Entschädigung

Die Biolandwirte bringt das auch in eine rechtliche Klemme. Sie müssen für saubere Produkte garantieren. Doch ohne eigene Schuld könnten sie herangewehte Pestizide ruinieren. Entschädigungsforderungen gegen konventionelle Landwirte laufen bisher ins Leere und dauern Jahre. Um das zu ändern, schlossen sich Bioanbaubetriebe und Biohändler zum Bündnis für eine Enkeltaugliche Landwirtschaft zusammen und gaben die Messstudie in Auftrag.

Boris Frank, Vorsitzender des Bündnisses, ist überzeugt: Das Thema geht alle an. "Unsere Forderung ist, dass die fünf Pestizide, die sich am weitesten in Deutschland über die Luft verbreiten, sofort verboten werden müssen", sagt er Fakt. "Es geht um uns alle, um die Bevölkerung in Deutschland. Wir alle atmen Pestizide in der Luft ein. Das ist ein unbekanntes Risiko für die Gesundheit und für die Natur, für unsere Umwelt."

Frank Gemmer, Geschäftsführer des Industrieverbands Agrar, der 35 deutsche Pestizidhersteller vertritt

Industrievertreter Gemmer sieht keine Basis für die Forderungen nach einem Entschädigungsfonds.

Pestizidbranche wehrt sich

Für geschädigte Biobauern fordert das Bündnis einen Entschädigungsfonds, gespeist von den Pestizid-Herstellern mit zehn Prozent ihrer jährlichen Umsatzerlöse, rund 110 Millionen Euro. Davon hält Frank Gemmer wenig. Er ist Geschäftsführer des Industrieverbands Agrar, der 35 deutsche Pestizidhersteller vertritt. Er verweist gegenüber Fakt auf Messungen der Industrie in Zulassungsverfahren. "Die Spuren, die wir gefunden haben, liegen weit unter den Grenzwerten", so Gemmer. "Wenn es hier wirklich Hinweise gibt, muss man das auf dieser Datenbasis auswerten und kann dann erst weitere Stellungnahmen dazu geben. Zurzeit sehen wir absolut keinen Sinn darin, hier über einen Entschädigungsfonds zu diskutieren."

Die Politik hat auf die Proteste der Biobauern reagiert. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft kündigte ein eigenes Luftmessprogramm an, ein sogenanntes Monitoring.  Mit möglichen Konsequenzen für künftige Zulassungsverfahren von Pestiziden. Das kann jedoch Jahre dauern.

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