Neuinfektionen in China "Die Angst vor einem zweiten Wuhan ist groß"
Es ist wieder ein Markt, von dem die neuen Corona-Fälle in Peking ausgehen sollen. Die Eindämmung fällt schwer. Wie dramatisch wird es dieses Mal? tagesschau.de hat mit Tamara Anthony in Peking gesprochen.
tagesschau.de: Wie ist die Situation in Peking, und was davon bekommen Sie gerade mit?
Tamara Anthony: Auf den Straßen ist eindeutig wieder viel weniger los als noch in der vergangenen Woche. Wenn man mit den Chinesen spricht, hört man, dass viele wirklich Angst haben, auf die Straße zu gehen. Einige ergreifen selbst Zuhause überraschende Maßnahmen wie etwa den Einsatz ultravioletter Strahlen im Badezimmer, um Viren aus den anderen Stockwerken abzuwehren. Das neue Infektionsgeschehen löst bei den Menschen schon sehr viel aus. Hier würde keiner auf die Idee kommen, die Notwendigkeit von Eindämmungsmaßnahmen in Frage zu stellen. Wir haben jedenfalls nicht mitbekommen, dass gegen die neuen Maßnahmen in irgendeiner Form rebelliert wird. Zumal sowieso Anordnungen von oben meist einfach akzeptiert werden.
tagesschau.de: Welche Maßnahmen wurden bereits wieder eingeleitet? Wie reagiert die Politik in Peking auf das neue Ausbruchsgeschehen?
Anthony: Wenn man auf die Zahlen schaut, dann klingen 137 neue Fälle in einer 20-Millionen-Stadt vielleicht nicht so viel. Aber hier herrscht eine Null-Fälle-Politik. In nur sieben Tagen sind etwa eine halbe Million Menschen getestet worden. Die Schulen sind wieder geschlossen, die Angestellten sollen möglichst wieder ins Homeoffice gehen und die U-Bahnen dürfen nur eine begrenzte Personenzahl befördern. Ganze Stadtviertel sind außerdem wieder im Lockdown. Und es gibt Ausreisebeschränkungen für alle in Peking. Auch für uns.
tagesschau.de: Gibt es besondere Vorkehrungen etwa im Gesundheitswesen?
Anthony: Ja, die gibt es. Obwohl es eine Überforderung des Gesundheitswesens selbst in der ersten große Welle in Wuhan hier in Peking so nicht gegeben hat. Schließlich konnten die kranken Menschen damals die besonders betroffene Provinz Hubei nicht verlassen. So viel wir wissen, ist die Versorgung im Frühjahr im restlichen China ausreichend gewesen. Nichtsdestotrotz haben die Krankenhäuser in Peking ihre Bettenzahl erhöht. Ein Notfallkrankenhaus, das noch aus Sars-Zeiten stammt, ist ebenfalls wieder aufgerüstet worden und wird auch aktuell wieder vorbereitet. Eine Überforderung wird vor diesem Hintergrund nicht erwartet.
tagesschau.de: Wie sehr kann man den Informationen der Behörden vertrauen?
Anthony: Es gibt zumindest einen sehr großen Unterschied zu der Situation im Januar. Es gibt jeden Tag zwei Pressekonferenz von der Peking Stadtbehörde. Dabei wird keineswegs die Situation runtergespielt. "Wir haben alles unter Kontrolle", der Satz fällt hier nicht. Die Lage wird als ernst eingestuft. Man weiß dieses Mal offenbar, womit man es zu tun hat.
tagesschau.de: Ausgangspunkt des neuen Ausbruchsgeschehens ist wieder ein Markt ...
Anthony: ... ja, aber er ist nicht mit dem in Wuhan vergleichbar. Wildtiere gibt es dort nicht. Es ist ein sehr großer Markt, auf dem sehr viele Menschen aufeinandertreffen.
Der Xinfadi Markt in Peking soll der Ursprung der neuen Infektionen sein. "Auf dem Markt werden aber keine Wildtiere wie in Wuhan angeboten", sagt Anthony.
tagesschau.de: Was bekommen Sie von den wirtschaftlichen Auswirkungen mit, wird die Wirtschaft durch die Maßnahmen erneut ausgebremst?
Anthony: In Peking sitzen keine Fabriken, die für Chinas Volkswirtschaft von ganz entscheidender Bedeutung sind. Daher wird sich die - im Moment noch - kurze Zeit, in der das Leben erlahmt, nicht sofort auswirken. Zudem ist die Produktion angewiesen worden, zwar das Personal zu reduzieren, aber die Arbeit nicht komplett zu stoppen.
tagesschau.de: Auch Sie sind ja von den Maßnahmen betroffen. Wie kann man in solchen Zeiten berichten?
Anthony: Uns fällt gerade jede Planung sehr schwer. Man kann Reisen kaum abschätzen, weil unklar ist, welche Anforderungen in einzelnen Provinzen gelten, aus denen wir berichten wollen. Es ändert sich gerade viel von Tag zu Tag. Dazu kommt, dass jeder Trip von unserer Gesundheitsapp - das chinesischen Pendant der Corona-Warn-App - registriert wird und vielleicht dann nicht mehr "grün" anzeigt. Fast überall müssen wir aber vor dem Betreten von Geschäften, Unternehmen, sonstigen Einrichtungen und Institutionen die App vorzeigen. Wenn die nicht "grün" ist, dann geht nichts mehr - von Kaffee holen bis zu Interview-Verabredungen. Wir können uns also nicht so frei bewegen, wie wir es gerne wollten. Und das bleibt erstmal auf absehbare Zeit so.
Das Gespräch führte Iris Marx, tagesschau.de