Die Regierungsbank im Bundestag
Hintergrund

Szenarien für Bundesregierung Was wäre, wenn ...?

Stand: 03.06.2019 15:44 Uhr

Macht die GroKo weiter so? Wer will Neuwahlen und wie ginge das rechtlich? Was ist mit Jamaika? Wie es nach dem Machtwechsel in der SPD weitergehen könnte - die Szenarien im Überblick.

Von Wenke Börnsen und David Rose, tagesschau.de

Ohne Andrea Nahles wäre die SPD wohl kaum in eine weitere Große Koalition eingestiegen. Jetzt ist Nahles zurückgetreten - was heißt das nun für das labile GroKo-Konstrukt? Die Zweifel am Fortbestand des Bündnisses wachsen - aber was sind die Alternativen? Wer will was politisch und was geht rechtlich?

Szenario 1 - Weiter so in der GroKo bis 2021

Die Legislaturperiode dauert bis 2021. Kanzlerin Angela Merkel hat mehrmals klargemacht, dass sie bis dann regieren will. Auch Annegret Kramp-Karrenbauer, die Merkel im Dezember 2018 als CDU-Vorsitzende abgelöst hatte, betonte vielfach ihren Willen zur Fortsetzung der Großen Koalition bis zur regulären Bundestagswahl. Planspielen für einen vorzeitigen Kanzlerwechsel trat sie entgegen: "Bis 2021 ist Angela Merkel Kanzlerin." Vor allem die Mandatsträger der Union - also die Bundestagsfraktion - dürften kein Interesse an einem Ende der GroKo haben. Sie wollen mit der SPD weiterregieren.

Auch in der SPD-Bundestagsfraktion gibt es kein gezieltes Interesse, die Große Koalition vorzeitig platzen zu lassen. Nicht nur, weil die 152 Abgeordneten im Fall von Neuwahlen um ihre Mandate bangen müssten, sondern auch, weil die Regierungsarbeit mit der Union im Großen und Ganzen sachlich und respektvoll verläuft. Zudem stehen noch SPD-Projekte aus, die sie umsetzen wollen.

Andererseits stehen die Abgeordneten unter Druck der GroKo-kritischen Basis - in ihren Heimat-Wahlkreisen dürfte es vielen mit jedem Wahldebakel und jedem neuen Umfragetief zunehmend schwerer fallen, das Bündnis mit der Union zu verteidigen. Und wie schnell Stimmung außer Kontrolle gerät, sah man zuletzt eindrücklich im Umgang mit Andrea Nahles.

Weiter so in der GroKo bis Herbst

Eigentlich will die SPD im Dezember auf ihrem Bundesparteitag eine Zwischenbilanz zur GroKo ziehen und über deren Fortbestand entscheiden. Inzwischen gibt es Forderungen, dies auf den Herbst vorzuziehen. Möglich, dass die Sozialdemokraten nach den erwarteten Wahlniederlagen Anfang September in Sachsen und Brandenburg den Stecker ziehen und aus der GroKo aussteigen. Das ließe sich verbinden mit einer personellen und inhaltlichen Neuaufstellung. Das geplante kommissarische Trio an der Parteispitze würde dann ein Weiter so verwalten bis Herbst.

Szenario 2 - SPD steigt aus

In diesem Fall gibt es mehrere Möglichkeiten, wie es weitergehen könnte.

Koalitionswechsel

Politische Interessenlage: Lässt die SPD die GroKo platzen, braucht die Union neue Regierungspartner. Realistisch gesehen kommen hierfür nur Grüne und FDP in Frage. Die Chancen für die Bildung eines Jamaika-Bündnisses in der laufenden Legislaturperiode sind jedoch gering. Das liegt vor allem an den Grünen. Sie schweben derzeit im Umfragehoch und haben im Fall von Neuwahlen sogar die Chance, stärkste Kraft zu werden - warum also sollten sie jetzt als Juniorpartner mit Union und FDP regieren wollen? Bei der vergangenen Bundestagswahl kamen die Grünen nur auf 8,9 Prozent - entsprechend schwach wäre ihre Position in einem Jamaika-Bündnis. Grünen-Chefin Annalena Baerbock schloss denn auch aus, dass ihre Partei anstelle der SPD in eine Regierung mit der Union eintreten würde. Sollte die Koalition scheitern, müsse es Neuwahlen geben, sagte sie.

Anders die FDP um Christian Lindner: Sie möchte jetzt doch ganz gern regieren - die Partei laboriert noch immer an den Folgen ihres Ausstiegs aus den Jamaika-Verhandlungen nach der Bundestagswahl 2017, abzulesen an mäßigen Umfrage- und Wahlergebnissen. Von ihrem kategorischen Nein zu einer Regierung mit Merkel als Kanzlerin rückte die FDP inzwischen ab.

Die Jamaika-Verhandler

Die Jamaika-Verhandler im Herbst 2017. Die FDP ließ die Sondierungen wenig später platzen.

Ein ganz praktisches Problem ist jedoch die knapper werdende Zeit in dieser Legislaturperiode: Denn es müsste erneut über einen Koalitionsvertrag verhandelt werden. Dann würde eine Regierungsbildung und die Ernennung neuer Minister folgen. Bis diese Minister eingearbeitet wären, wäre aber schon wieder der Wahlkampf für die Bundestagswahl im September 2021. Durchzusetzen wäre politisch kaum noch etwas. Je länger die Legislaturperiode dauert, desto unwahrscheinlicher wird also Jamaika, argumentiert man sowohl bei Union und Grünen.

Die SPD hat keine realistische Machtoption nach einem GroKo-Aus ohne Neuwahl: Für Rot-Rot-Grün reicht es nicht.

Rechtliche Lage: Ein Koalitionswechsel in der laufenden Regierungszeit ist rechtlich möglich - sowohl mit einem Verbleib Merkels als Kanzlerin als auch mit der Wahl eines neuen Kanzlers oder einer neuen Kanzlerin.

Minderheitsregierung ohne Kanzlerwechsel

Politische Interessenlage: Sollte die SPD aussteigen, wäre dies nicht unbedingt das Ende von Merkels Kanzlerschaft. Denkbar wäre eine Minderheitsregierung. Dies hatte die CDU-Spitze zwar mehrheitlich nach dem Platzen der Jamaika-Sondierung ausgeschlossen, doch nun könnte eine neue Konstellation entstehen. Dafür spräche, dass in der EU derzeit die Weichen für die kommenden fünf Jahre neu gestellt werden und sich Deutschland nicht erneut mindestens ein halbes Jahr Entscheidungsunfähigkeit durch Neuwahlen und anschließende Koalitionsbildung leisten kann. Wiederholt wird auf die deutsche EU-Ratspräsidentschaft ab Juli 2020 verwiesen, in der Deutschland handlungsfähig sein müsse.

Angela Merkel

Weltbühne statt Parteizentrale: Kanzlerin Merkel könnte auch mit einer Minderheitsregierung weitermachen.

Welche Projekte die Union dann durchsetzen könnte, ist unklar. Sie müsste große Kompromisse machen, um SPD, FDP oder Grüne zur Zustimmung einzelner Gesetzesvorhaben zu bewegen - spätestens, wenn es ums Geldausgeben geht, dürfte es schwierig werden. Das Interesse der Parteien am Konstrukt Minderheitsregierung dürfte daher überschaubar sein. Vor allem die SPD hätte politisch nichts gewonnen - sie wäre dann zwar raus aus der ungeliebten GroKo und in der Oppositionsrolle, doch mit welchem Effekt? Zumal ihr auch die Schuld am Platzen der Regierung gegeben würde - Wähler bestrafen so etwas traditionell.

Rechtliche Lage: Bisher gab es in der Bundesrepublik nur für kurze Übergangszeiten Minderheitsregierungen. Dies ist im Rahmen des Grundgesetzes aber auch für einen längeren Zeitraum möglich, wenn zum Beispiel ein Koalitionspartner die Regierung verlässt. Falls es dann weder zu einem erfolgreichen Misstrauensvotum noch zu einem Kanzler-Rücktritt kommt, bleibt die Bundeskanzlerin oder der Bundeskanzler im Amt.

Für alle Gesetzesvorhaben müssen dann Mehrheiten im Bundestag organisiert werden. Besonders schwierig ist es dabei, genug Unterstützung für die Verabschiedung des Bundeshaushalts zu finden. Falls dies nicht gelingt, scheitert aber die Minderheitsregierung nicht automatisch daran. Denn das Grundgesetz sieht ein Nothaushaltsrecht vor. Auch ohne einen vom Bundestag beschlossenen Etat kann die Regierung in solchen Fällen das notwendige Geld ausgeben, um Gehälter zu zahlen, alle rechtlichen Verpflichtungen zu erfüllen und laufende Projekte fortzusetzen. Nur größere Reformen, die zusätzliche Ausgaben oder sinkende Einnahmen zur Folge haben, sind dann nicht möglich.

Minderheitsregierung mit Kanzlerwechsel

Politische Interessenlage: Merkel könnte auch als Kanzlerin zurücktreten, etwa um ihrer Wunschnachfolgerin Kramp-Karrenbauer vorzeitig ins Amt zu verhelfen. Das birgt Chancen und Risiken für die CDU-Chefin. Einerseits ist sie gerade innerparteilich angeschlagen - nach mehreren unglücklichen Äußerungen, Pannen-Kommunikation in der Parteizentrale und dem schlechten Abschneiden bei der Europawahl wuchsen zuletzt die Zweifel. Kann sie Kanzlerin?, fragten sich nicht nur Parteifreunde. Das nützt ihren parteiinternen Gegnern aus dem Lager des unterlegenen Bewerbers um den CDU-Chefposten, Friedrich Merz.

Andererseits läuft Kramp-Karrenbauer die Zeit davon - je länger ihr Weg zur Kanzlerschaft dauert, desto geringer werden ihre Chancen, mutmaßen Beobachter. Sie hat kaum Möglichkeiten, sich zu profilieren, und im Herbst drohen weitere schlechte Wahlergebnisse. Sollte die AfD dort wie erwartet Erfolge einfahren, dürften die Zweifel an Kramp-Karrenbauer weiter wachsen.

Und es gibt ein ganz praktisches Problem: Kramp-Karrenbauer bekäme vermutlich nicht die erforderliche Mehrheit bei der Kanzlerwahl. Die SPD hat mehrmals angekündigt, sie nicht wählen zu wollen. Auch die anderen Parteien dürften wenig Interesse daran haben, Kramp-Karrenbauer den Weg ins Kanzleramt zu ebnen. Es sei denn, die Angst vor Neuwahlen überwiegt bei einigen Abgeordneten.

Rechtliche Lage: Ein Kanzlerwechsel während der laufenden Wahlperiode ist auch ohne konstruktives Misstrauensvotum möglich. In der Geschichte des Bundesrepublik kam es bisher drei Mal vor, dass ein amtierender Kanzler seinen Rücktritt erklärte und der Bundestag einen Nachfolger aus derselben Partei zum neuen Regierungschef wählte: 1963 Ludwig Erhard nach dem Rücktritt von Konrad Adenauer, 1966 Kurt Georg Kiesinger nach Erhards Rückzug und 1974 Helmut Schmidt infolge des Rücktritts von Willy Brandt.

Für die Neuwahl eines Bundeskanzlers während der Wahlperiode gelten dieselben Regeln wie zu Beginn einer Wahlperiode. Der Bundespräsident schlägt einen Kandidaten oder eine Kandidatin vor. Für die Wahl erforderlich ist die absolute Mehrheit der aktuell 709 Mitglieder des Bundestages, also die Unterstützung von mindestens 355 Abgeordneten. Kommt diese sogenannte Kanzlermehrheit nicht zustande, hat der Bundestag 14 Tage Zeit für weitere Wahlgänge - auch mit möglichen anderen Kandidaten. Auch hierbei ist eine Kanzlermehrheit nötig.

Endet diese Frist ergebnislos, gibt es einen letzten Wahlgang. Dabei kann der Bundespräsident den Kandidaten oder die Kandidatin mit den meisten Stimmen zum Bundeskanzler ernennen, auch wenn dabei die Kanzlermehrheit verfehlt wird. Er kann in diesem Fall aber auch den Bundestag auflösen und vorgezogene Neuwahlen herbeiführen.

Vorgezogene Neuwahlen

Politische Interessenlage: Eine andere Variante wäre, dass die SPD aus der Regierung ausscheidet, die Union keine Minderheitsregierung möchte, FDP und Grüne einen zweiten Anlauf für Jamaika ablehnen und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dann ebenfalls eher für Neuwahlen plädiert.

Linkspartei und AfD fordern nach dem Machtwechsel bei der SPD eine Neuwahl des Bundestags. Die Grünen haben auch nichts dagegen - könnten sie doch sogar an der Union vorbeiziehen.

Blick in den Plenarsaal bei der konstituierende Sitzung am 17. Oktober 2002

Eine Neuwahl des Bundestags dürfte die Machtverhältnisse im Parlament erheblich ändern.

Die Interessenlage in der CDU ist diffus. Die Frage, ob Kramp-Karrenbauer tatsächlich Kanzlerkandidatin wäre, dürfte im Falle einer vorgezogenen Neuwahl in der CDU wieder aufbrechen - obwohl sie als Parteivorsitzende eigentlich das erste Zugriffsrecht hätte. Auch Merz und dessen Anhänger dürften sich dann erneut Chancen auf das Kanzleramt ausrechnen. Von dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet heißt es intern ebenfalls, er traue sich ein solches Amt als Chef des größten CDU-Landesverbandes durchaus zu. Auch inhaltlich ist die CDU gerade denkbar schlecht für einen Wahlkampf vorbereitet. Die Partei ist inhaltlich entkernt, Antworten auf die großen Fragen der Zeit, etwa im Klimaschutz, fehlen. Auch deswegen können die Grünen derart punkten.

Die SPD steckt im Dilemma: Weder der Verbleib in der GroKo noch Neuwahlen holen die Partei kurzfristig aus der Krise. Sie fürchtet den Absturz in die Bedeutungslosigkeit. Solange sie nicht klärt, wofür sie steht, für wen sie Politik machen will und mit wem an der Spitze, ist kaum Besserung in Sicht. Ihr Interesse an Neuwahlen dürfte gering sein - und gerade das erhöht den Druck, doch in der GroKo zu bleiben. Denn das wahrscheinlichste Szenario bei einem GroKo-Aus sind Neuwahlen.

Die FDP hat sich nicht klar positioniert. Ihre Umfragewerte sind mäßig, ihr Interesse an Neuwahlen dürfte daher wenig ausgeprägt sein.

Rechtliche Lage: Das Grundgesetz sieht nur zwei Wege vor, um vorgezogene Neuwahlen des Bundestages zu ermöglichen: eine mehrmals gescheiterte Kanzlerwahl (Wie oben beschrieben) oder mangelnde Unterstützung für den Bundeskanzlerin oder den Bundeskanzler bei einer Vertrauensfrage im Parlament. In allen drei bisherigen Fällen vorgezogener Neuwahlen des Bundestages (1972, 1983 und 2005) wählten die Kanzler den Weg über die Vertrauensfrage. Sprechen die Abgeordneten dem Regierungschef dabei nicht mehrheitlich das Vertrauen aus, kann der Bundespräsident innerhalb von 21 Tagen den Bundestag auflösen. Geschieht dies, müssen binnen 60 Tagen Neuwahlen stattfinden.

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