Altkanzlerin Angela Merkel
Analyse

Merkel verteidigt Russland-Politik "Ich werde mich nicht entschuldigen"

Stand: 08.06.2022 05:06 Uhr

In ihrem ersten Interview seit Langem erlebte man eine Angela Merkel, die sichtlich betroffen ist von Russlands Ukraine-Krieg. Außenpolitische Fehler will sie aber nicht erkennen.

Eine Analyse von Kristin Becker, ARD Berlin

Die Journalisten sind zahlreich erschienen - die Fans aber auch. Vorm Gebäude machen sie Selfies vor dem Plakat, auf dem die Kanzlerin a.D. großformatig und freundlich in die Welt schaut. Hinterher werden sie das Buch kaufen und signieren lassen, für dessen Bewerbung die Veranstaltung ursprünglich mal gedacht war.

Angela Merkel ist zurück. Es ist nicht mehr die ganz große Weltbühne, sondern der Theatersaal des Berliner Ensembles, in dem sie fast auf den Tag genau ein halbes Jahr nach Ende ihrer Kanzlerschaft vor die Öffentlichkeit tritt. Aber die Bilder und Töne werden natürlich um den Globus gehen, sie werden nachhallen, und das weiß die Frau, die 16 Jahre lang Deutschland regiert hat.

Wenn nicht gerade Merkel zu Gast ist, spielt man im Berliner Ensemble aktuell Stücke mit symbolisch klingenden Titeln wie "Fabian oder der Gang vor die Hunde", "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" oder "Der Weg zurück". Der Blick zurück auf ihre Kanzlerschaft und besonders auch den Teil, der die aktuelle Weltlage betrifft, scheint Angela Merkel nicht schwer zu fallen. In blauem Blazer sitzt sie in einem Sessel vor rotem Bühnenhintergrund. Ein fast gemütliches Setting. Sie mache nur noch "Wohlfühltermine", sagt sie irgendwann süffisant an diesem Abend, der zwischen lockeren Plaudereien über das "Auslüften" an der Ostsee und dem Nachdenken über schwerwiegende politische Entscheidungen schwankt.

Ihr Herz hat "immer für die Ukraine geschlagen"

Vermutlich hätte es eigentlich viel um den Osten Deutschlands gehen sollen bei einem Gespräch, das ein ostdeutscher Verlag mit dem ostdeutschen "Spiegel"-Journalisten Alexander Osang in einem ostdeutschen Theater organisiert hat - rund um eine Sammlung von Reden, die sich auch mit Ostdeutschland beschäftigen. Nun ist es aber ein anderer Osten, der über allem liegt und das Thema bestimmt - der Osten Europas jenseits deutscher Grenzen, wo Russland einen blutigen Krieg gegen die Ukraine führt.

Merkel spricht von großer Tragik, verurteilt ein weiteres Mal den "brutalen" russischen Überfall, für den es "keinerlei Rechtfertigung" gebe. Und sie sagt auch, bei den Verhandlungen in der Vergangenheit habe ihr Herz "immer für die Ukraine geschlagen".

Im Verteidigungsmodus: Schlimmeres verhindert

Bemerkenswert ist aber, wovon sie nicht spricht: von eigenen Fehlern oder Versäumnissen etwa im Umgang mit Russland, Putin oder der Ukraine. Im Gegenteil: Merkel ist selbstbewusst im Verteidigungsmodus und pocht darauf, dass alles im Kontext des Zeitgeschehens betrachtet werden müsse und vergangene Entscheidungen Schlimmeres verhindert hätten. Sei es die Ablehnung einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine oder das Minsker Abkommen.

Politik ist eben das, was möglich ist, scheint Merkels Leitgedanke auch im Rückblick zu sein: "Ich habe versucht, in die Richtung zu arbeiten, dass Unheil verhindert wird und Diplomatie ist ja nicht, wenn sie nicht gelingt, falsch gewesen. Ich sehe nicht, dass ich jetzt sagen müsste, das war falsch und werde mich deshalb auch nicht entschuldigen."

"Es geht mir persönlich sehr gut"

Die Altkanzlerin wirkt fest entschlossen, nun endlich wieder mitzubestimmen, wie über sie und ihr politisches Vermächtnis gedacht und gesprochen wird. Sie gibt sich ruhig, trocken, unerschüttert - und sehr bei sich. Mit kleinen Spitzfindigkeiten sorgt sie für Heiterkeit. "Es geht mir persönlich sehr gut", sagt die Ex-Regierungschefin, angesprochen auf das Leben nach dem Kanzleramt. Aber natürlich sei sie in diesen Tagen "manchmal bedrückt".

Keine Zweifel lässt Merkel daran, wie sehr sie nicht erst jetzt Putins Sicht der Dinge, sein Werteverständnis ablehnt. Der etwa sehe - im eklatanten Gegensatz zu ihr - den Zerfall der Sowjetunion als die "schlimmste Sache im 20. Jahrhunderts" an und halte Demokratie für falsch.

Ebenso klar lässt sie aber auch Kritik an ihrer Außenpolitik abprallen. Zwar sei es nicht gelungen, in all diesen Jahren "den Kalten Krieg zu beenden" oder eine Sicherheitsarchitektur zu schaffen, die die derzeitige Situation verhindert hätte. Aber: "Ich bin froh, dass ich mir nicht vorwerfen muss, dass ich es zu wenig versucht habe."

Auch dass die Bundeswehr unter ihrer Regierung "verlottert" sei, will Merkel nicht auf sich sitzen lassen. Lieber spricht sie von nicht ausreichender Ausrüstung und "Nachholbedarf": "Da müssen sich alle ein bisschen an die Nase fassen und da fasse ich mir mit an die Nase." So klingt er dann, der Höhepunkt an Selbstkritik.

Die Energiepolitik, die Abhängigkeit von russischem Gas und Öl, in die auch Merkel Deutschland geführt hat, kommt nicht wirklich vertieft zur Sprache. "Ich habe nicht daran geglaubt, dass Putin durch Handel gewandelt wird", lässt die Altkanzlerin immerhin wissen. Sie habe jedoch bestimmte Handelsbeziehungen zwischen Nachbarn für sinnvoll gehalten.

Heimspiel für die Altkanzlerin

Alexander Osang lässt Merkel da schnell ausweichen. Er kennt sie seit vielen Jahren, hat sie immer wieder porträtiert, auch wenn er selbst zu Beginn berichtet, dass er oft Mühe hatte, ihr nahezukommen. An diesem Abend schafft er es jedenfalls nicht, sie aus der Ruhe zu bringen. Nicht mal der etwas bemühte Kniff, sie mit Fragen des ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk ein bisschen zu provozieren, verfängt.

Auch wenn der Schlussapplaus reichlich ausfällt und die Schlange am Büchertisch lang ist: Die Kritiker ihrer Russlandpolitik wird Merkel an diesem Abend nicht überzeugen. Aber sie macht mit ihrem Auftritt im Berliner Ensemble unmissverständlich klar, dass sie wieder da ist und die Deutungshoheit über ihre Politik nicht länger anderen überlassen will.

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