Der nahezu vollbesetzte Plenarsaal des Deutschen Bundestages während der Generaldebatte.
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Wahlrechtsreform So soll der Bundestag kleiner werden

Stand: 07.07.2022 03:48 Uhr

Das Wahlrecht soll reformiert werden, doch seit Jahren wird um einen Konsens gerungen. Nun kommt Bewegung in die Sache. Woran hakt es noch? Und wie geht es weiter?

Von Corinna Emundts, ARD-aktuell

Derzeit zählt der aktuelle Bundestag 736 Abgeordnete - vorgesehen sind 598. Die Ampelkoalition will diese Zahl für künftige Legislaturperioden per Gesetz als Obergrenze festschreiben und unternimmt nach einigen gescheiterten Reformversuchen der Großen Koalition nun einen neuen Versuch.

Am Dienstag haben SPD und Grüne Eckpunkte einer Wahlrechtsreform beschlossen. Der Ampel-Partner FDP hat sich damit ebenfalls wohlwollend befasst. Heute diskutiert darüber die Wahlrechtskommission des Bundestags. Bis Ende August legt diese einen Zwischenbericht vor. Woran hakt es noch? Welche Vorteile und Tücken hat die Wahlrechtsreform in Deutschland? Ein Überblick.

Worum geht es bei der Wahlrechtsreform eigentlich?

Durch das deutsche personalisierte Verhältniswahlrecht mittels Erststimme für Wahlkreiskandidatinnen und -kandidaten sowie der entscheidenden Zweitstimme für die Partei im Bundestag entsteht zunehmend ein Ungleichgewicht: Parteien können über Direktmandate oft mehr Plätze im Parlament gewinnen, als es ihrem Zweitstimmenergebnis entspricht. Sehr deutlich ist das in Bayern: Dort wurde mit einer Ausnahme jeder Wahlkreis (45 von 46) von einem CSU-Politiker oder einer CSU-Politikerin gewonnen. Ihrem Stimmproporz entsprechend dürfte die CSU aber nicht so viele Sitze im Bundestag haben.

Als Gegengewicht für diese überzähligen Direktmandate wurden Ausgleichsmandate erfunden, die dafür sorgen, dass andere Parteien auch mehr Sitze bekommen, so dass das über die Zweitstimmen gewählte Verhältnis zwischen den Parteien wieder stimmt. Der Politologe Thorsten Faas beschreibt hier einen "Zielkonflikt": Einerseits ist bei dieser Art zu wählen die Bürgernähe der Direktkandidatinnen und -Kandidaten und ihre Repräsentanz im Parlament wichtig. Andererseits soll das Verhältnis der Zweitstimmen nicht verwässert werden.

Direktmandate versus Zweitstimmenergebnis

Dieses Wahlsystem führte in der Vergangenheit zu stetig wachsenden Parlamenten - und damit zu steigenden Kosten. Auch stehen derart wachsende XXL-Parlamente in der Kritik, ineffizienter zu werden. Die Parteien arbeiten seit vielen Jahren immer wieder daran, diesen Trend mit neuen Wahlrechts-Modellen umzukehren. Auch die derzeit regierende Ampelkoalition hat sich das vorgenommen - und dazu im Bundestag eine Kommission "zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit" mit beschlossen.

Das Gremium soll sich "auf der Grundlage der Prinzipien der personalisierten Verhältniswahl mit Vorschlägen befassen, die eine effektive Verkleinerung des Bundestages in Richtung der gesetzlichen Regelgröße bewirken und nachhaltig das Anwachsen des Bundestages verhindern", schrieben die drei Fraktionen in ihrem dazugehörigen Antrag. Dieser wurde neben der Mehrheit der Antragsteller auch von der Linksfraktion im Bundestag unterstützt.

Bis Ende August dieses Jahres soll die Kommission einen Zwischenbericht mit den Empfehlungen zur künftigen Begrenzung der Abgeordnetenzahl vorlegen. Eckpunkte sind bereits im Mai präsentiert worden. Dem Gremium gehören 13 Abgeordnete und 13 Sachverständige an. Dabei stellen die SPD-Fraktion vier Mitglieder, die CDU/CSU-Fraktion drei Mitglieder, die Grünen- und die FDP-Fraktion jeweils zwei und die Fraktionen AfD und die Linke jeweils ein Mitglied - die Ampelfraktionen haben auch dort also eine politische Mehrheit.

Was schlagen die Fraktionen der Ampel-Regierung vor?

Dort wird tatsächlich so etwas wie die Quadratur des Kreises versucht: Alle 299 Wahlkreise sollen im aktuellsten Eckpunkte-Papier weiterhin im Bundestag repräsentiert sein, aber gleichzeitig soll die Regelgröße mit 598 Bundestagssitzen nicht überschritten werden. Dem Vorschlag aus den Ampelfraktionen zufolge sollen die Überhangmandate und damit auch die Ausgleichsmandate abgeschafft werden, die bisher als Gegengewicht für überzählige Direktmandate geschaffen worden waren. Demnach könnte nicht mehr jeder oder jede direkt gewählte Abgeordnete mir einem Direktmandat sicher rechnen - diejenigen mit den jeweils schlechtesten Ergebnissen ihrer Parteien würden nicht einziehen können. Nach der Bundestagswahl 2021 wäre das in 34 Fällen der Fall gewesen: zwölfmal bei der CDU, elfmal bei der CSU, zehnmal bei der SPD und einmal bei der AfD.

Damit jeder Wahlkreis dennoch repräsentiert wäre, haben sich die Abgeordneten in ihrem Vorschlag als Lösung zusätzlich zur über den Parteienproporz dann entscheidenden Erststimme für den Wahlzettel eine "Ersatzstimme" ausgedacht - eine Art Mitspracherecht für jede Wählerin und Wähler, wer aus ihrem Wahlkreis einziehen soll, wenn der oder die Direktkandidatin den Einzug in den Bundestag wegen des neuen Modells verpasst: Fiele das Mandat des "Überhangkandidaten" weg, würden Erst- und Ersatzstimmen zusammengezählt. Wer dann die meisten Stimmen bekommt, kriegt das Mandat. Es kann also sein, dass der Erststimmengewinner auch der Gesamtgewinner ist.

Was ist die Position der Opposition?

Vertreter der größten Oppositionsfraktion CDU/CSU haben sich irritiert gezeigt, dass die Ampel-Fraktionen bereits mit ihrem Vorschlag an die Öffentlichkeit gegangen sind, ohne sich mit der Opposition abzustimmen. Sie lehnen die Abschaffung der Direktmandate ab. "Dass Wahlkreismandate gewonnen werden und anschließend noch einmal zugeteilt werden müssen oder eben nicht", sei mit ihrer Auffassung der Legitimation von Wahlkreismandaten nicht vereinbar, sagte Unions-Fraktionschef Friedrich Merz diese Woche am Rande des Bundestags.

Merz sprach sich für das sogenannte Grabenwahlrechts-Modell aus. Dabei würden ohne jegliche Verrechnung 299 Mandate in den Wahlkreisen direkt vergeben und die übrigen 299 gemäß dem Zweitstimmenanteil. Die Stärke der Parteien im Bundestag könnte dann allerdings stark von deren Zweitstimmenanteil abweichen. Der Vorschlag der Ampel hingegen grenze "an Wahlbetrug mit Ansage", legte Alexander Dobrindt nach, der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe drohte bereits mit Verfassungsklage.

Die Linkspartei lehnt den vorliegenden Ampel-Vorschlag ebenfalls ab. Sie war allein dank einer Sonderregelung über drei Direktmandate wieder als Fraktion in den Bundestag eingezogen, obwohl sie knapp unter der Fünf-Prozent-Hürde im Wahlergebnis gelandet war. Linksfraktionschefin Amira Mohamed Ali äußert wie die Union "verfassungsrechtliche Bedenken". Der Vorschlag der Koalition führe zu einer "faktischen Entwertung von Stimmen". Mohamed Ali kritisierte ebenfalls, dass die Oppositionsfraktionen bei den Reformplänen nicht eingebunden worden seien.

Die AfD wiederum stimmt im Grundsatz mit dem Ampel-Modell überein - der Vorschlag entspräche weitestgehend einem Gesetzentwurf der AfD zur Wahlrechtsreform aus dem Herbst 2020, sagte Albrecht Glaser, Kommissionsmitglied und AfD-Abgeordneter, gegenüber tagesschau.de.

Warum sind Direktmandate der Streitpunkt?

Wer einen Wahlkreis direkt gewinnt, erst recht als Mitglied vergleichsweise kleinerer Parteien im Parlament, genießt hohes Prestige in der Politik. Schließlich hat der Politiker oder die Politikerin dann in der Regel über Persönlichkeit und politisches Engagement mehr Anerkennung der Wählenden gewonnen als es der eigenen Partei gelungen ist. Das Direktmandat wird auch verknüpft mit dem Image der Bürgernähe: Grundsätzlich sind zwar alle Abgeordneten des Bundestages gleichgestellt. Aber laut Bundestags-Definition "ist der direkt gewählte Volksvertreter stärker als der Listenabgeordnete Ansprechpartner für die Interessen seines Wahlkreises."

Allerdings sind Direktmandate wirklich prominenter Politiker wie etwa Gregor Gysi von der Linkspartei in Berlin-Treptow eher die Ausnahme. Laut einer repräsentativen Umfrage kennen nur zehn bis 15 Prozent der Wählenden ihre Wahlkreiskandidaten - "das derzeit oft zu hörende Hohelied der Wahlkreisgewinner und -gewinnerinnen ist doch etwas verzerrt", sagt Politologe Faas dazu.

Eine weitere Frage wäre, ob das Ampel-Modell die Motivation von Wahlkreiskandidatinnen und -kandidaten verändern würde. Das sei ein spannender Punkt, so Faas, "die Reform könnte tatsächlich beispielsweise in Bayern Wahlkreis-Kandidaten der CSU demotivieren, dafür aber natürlich auch die Wahlkreis-Kandidaten von Grünen und SPD motivieren - die den Wahlkreis dort plötzlich gewinnen könnten".

Hätte eine Klage vor dem Verfassungsgericht Chancen?

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist das nicht genau zu sagen, da bisher nur Eckpunkte vorliegen - aber kein umfassender Reformentwurf. Während die Unionsfraktion bereits diese für "mit dem Grundgesetz nicht vereinbar hält", geben sich die Mitglieder der Ampel-Fraktionen optimistisch: Die Grünen-Fraktionsspitze hält es für eine "faire, verfassungsgemäße und ausgeglichene Reform des Wahlrechts", die den Bundestag wirksam verkleinern werde.

Auch der innenpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Konstantin Kuhle, widersprach rechtlichen Einwänden: "Es dürfte sehr wohl dem Geist des Grundgesetzes entsprechen, dass eine Partei genau so viele Sitze erhält, wie es dem Wahlergebnis entspricht". Letztlich sei es eine Frage der Priorisierung, so Politologe Faas, ob man der Personalisierung oder dem Verhältniswahlrecht mehr Gewicht gebe.

Und wie geht es weiter?

Die mit den Stimmen der Ampel-Koalition und der Linkspartei eingesetzte Bundestags-Kommission zur Wahlrechtsreform soll im August einen Zwischenbericht mit den Empfehlungen zur künftigen Begrenzung der Abgeordnetenzahl vorlegen, ihren Abschlussbericht dann bis Mitte kommenden Jahres.

Jedoch strebt die SPD-Fraktion ein Gesetzgebungsverfahren ab September an, um bis Ende dieses Jahres durch zu sein. Auch Oppositionsführer Merz zeigte sich offen für den beschleunigten Zeitplan bis Jahresende. Im Raum steht ein Kompromiss, jedoch sind ihre beiden Modelle schwer vereinbar. SPD-Fraktionsvize Matthias Miersch betonte, der Ampel-Vorschlag sei "eine offene Einladung". Es sei nicht ausgeschlossen, "dass wir am Ende bei einem Modell landen, wo dann doch mehrere noch sagen, da machen wir mit". Allerdings verwies Miersch auch auf Blockaden der vergangenen Jahre: "Wir müssen jetzt auch mal Schritte nach vorne tun."

Bis auf eine Entscheidung zum Wahlalter reicht die eigene Mehrheit der Ampel-Fraktionen für die Wahlrechtsreform. Allerdings würde eine breitere parlamentarische Mehrheit vermutlich die Nachhaltigkeit und Beständigkeit der Reform sichern.

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