Hendrik Wüst
Porträt

Ministerpräsident Wüst Der Wandelbare

Stand: 12.05.2022 09:23 Uhr

Hendrik Wüst politischer Aufstieg war von Rückschlägen geprägt. Das Amt des Ministerpräsidenten verdankt er auch manch glücklicher Wendung - jetzt muss er um die Macht kämpfen.

Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Bundesland - das geht per se mit viel Macht und Einfluss einher: "Kleine Bundestagswahl" wird die Landtagswahl zwischen Rhein und Weser deshalb genannt.

Der Düsseldorfer Regierungschef Hendrik Wüst dürfte dennoch genau auf den Ausgang der Wahl im kleinen Saarland geschaut haben, wo Ende März der Christdemokrat Tobias Hans abgewählt wurde.

Auch er war, wie Wüst, ohne Wahl ins Amt gekommen - 2018 als Nachfolger von Annegret Kramp-Karrenbauer. Und Hans scheiterte, als er sich dem Votum der Wählerinnen und Wähler stellen musste.

Vielleicht aber weht dieser Tage mit dem Wahlsieg von Daniel Günther in Schleswig-Holstein Rückenwind für Wüst aus nördlichen Richtungen. Den könnte Wüst gut gebrauchen. Die jüngsten Umfragen sehen ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit seinem SPD-Herausforderer Thomas Kutschaty voraus. Viel Zeit, sich als Ministerpräsident zu profilieren, hatte Wüst nicht. Erst im Oktober vergangenen Jahres hatte der 46-Jährige die Regierungsgeschäfte von Armin Laschet übernommen.

Wüsts Weg in die Staatskanzlei

Der Kronprinz von Laschet war Wüst allerdings nie. Mit seiner Berufung 2017 zum Verkehrsminister band Laschet einen Konkurrenten in die Kabinettsdisziplin ein. Nach Laschets gescheiterter Kanzlerkandidatur dauerte es lange, bis sich die NRW-CDU für Wüst entschied, bis die Vorbehalte, er sei zu konservativ, zu provinziell, ein politisches Leichtgewicht, allgemeiner Zustimmung wichen.

Den Weg in die Staatskanzlei haben viele glückliche Umstände geebnet. In den Schoß gefallen ist Wüst das Amt aber nicht: Die Zeit der innerparteilichen Unentschlossenheit nutzte er für geschicktes Netzwerken und baute seinen Rückhalt in Partei und Fraktion aus.

Wüsts größter Glücksfall im Herbst 2021 ist die NRW-Verfassung: "Der Landtag wählt aus seiner Mitte den Ministerpräsidenten", heißt es da. Wüst hat das notwendige Abgeordnetenmandat - im Gegensatz zu seiner größten Konkurrenz, NRW-Innenminister Herbert Reul, ein Laschet-Vertrauter, und Multiministerin Ina Scharrenbach, die für Heimat, Kommunales, Bauen und  Gleichstellung verantwortlich ist.

Abenteuerliche Interimslösungen wurden auf den Fluren des Düsseldorfer Landtags kolportiert. Erst die verlorene Bundestagswahl, das Laschet-Söder-Debakel und die offene Führungsfrage in der Bundes-CDU gaben den letzten Push: In NRW schlossen sich die Reihen hinter Wüst.

Der MPK-Vorsitz

Fortuna schenkte dem jungen Ministerpräsidenten gleich noch die ganz große Bühne - als turnusmäßiger Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK). Das katapultierte ihn direkt in die Umlaufbahn bundesweiter Bekanntheit.

Gut für Wüst: Aus den während der Pandemie oft quälenden Runden der Länderchefs und -chefinnen wurden kaum noch Indiskretionen durchgestochen. Bis auf eine Lästerei von Bundeskanzler Olaf Scholz: "Amateur im Ministerpräsidenten-Kostüm" soll er ihn genannt haben.

Rhede - Herkunft, Heimat, Rückhalt

Geboren wurde er am 19. Juli 1975 in Rhede im westlichen Münsterland. Hier lebt er heute noch mit seiner Frau Katharina und seiner 2021 geborenen Tochter Philippa. Für sein Jura-Studium blieb er heimatverbunden und ging nach Münster. Er wurde Stadtrat in Rhede. Mit 25 Jahren bekam er das erste Spitzenamt als JU-Landesvorsitzender. Wüst profilierte sich mit stramm konservativen Thesen, gab sogar der Wochenzeitung "Junge Freiheit" ein Interview.

Das Blatt galt schon damals als Sprachrohr der "Neuen Rechten". Darin forderte Wüst, es müsse im bürgerlichen Lager "wieder in Mode kommen, sich zu Deutschland zu bekennen". Er selbst sei stolz, Deutscher zu sein. Zur Landtagswahl 2005 trat er dann erstmals als Direktkandidat im Wahlkreis Borken I an, einer konservativen Hochburg. Als damals jüngster Abgeordneter zog er in den Landtag ein.

Steiler Aufstieg und jäher Absturz

Und der Aufstieg wurde noch steiler: 2006 wurde Wüst zum Generalsekretär des größten CDU-Landesverbands gewählt. Der 30-Jährige übernahm den Job in schwierigem Fahrwasser, sein Vorgänger Hans-Joachim Reck hatte genervt aufgegeben. Von Mobbing und Kleinkriegen in der Staatskanzlei des damaligen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers war die Rede.

In den folgenden Jahren erarbeitete sich Generalsekretär Wüst einen kantigen Ruf als "schneidiger Law-and-Order-Politiker" ("SZ"), als "hart gesottener Wadenbeißer" ("FAZ") und als "Rüttgers' Mann fürs Grobe" ("Die Zeit"). Er polarisierte mit seinem nassforschen Auftreten und seinen Kampagnen gegen die SPD und deren Hoffnungsträgerin Hannelore Kraft.

Dann kam der tiefe Fall mit der "Rent-a-Rüttgers"-Affäre: Die Partei hatte bei Unternehmen dafür geworben, sich auf ihrem Landesparteitag zu präsentieren. Gespräche mit dem Ministerpräsidenten konnten für einen Aufpreis hinzugebucht werden. Wüst trat im Februar 2010, wenige Monate vor der Landtagswahl, als Generalsekretär zurück. Die Abwahl Rüttgers konnte er nicht verhindern, Hannelore Kraft wurde Ministerpräsidentin.

Der Lobbyist

Trotz Affäre und Rücktritt holte Wüst im Mai 2010 wieder das Direktmandat und wurde wirtschaftspolitischer Sprecher seiner Fraktion. 2013 übernahm er den Landesvorsitz der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT) in NRW, einer einflussreichen Unterorganisation der Partei. Und er hatte in den kommenden Jahren noch Zeit für mehrere Jobs als Geschäftsführer bei Medienverbänden wie dem Zeitungsverlegerverband NRW.

In dieser Zeit legte sich Wüst ein neues, smartes Image zu, das er auch heute noch pflegt. Nun war er von ausgesuchter Freundlichkeit, aufmerksam, zuvorkommend. Er lächelte sehr viel, hörte geduldig zu. Aber was dachte Wüst dabei? In seinem Gesicht war es nicht abzulesen.

Der Verkehrsminister

2017 kam das politische Comeback als NRW-Verkehrsminister. Es war belastet mit Laschets vollmundigen Wahlversprechen, die Staus im dichtbesiedelten NRW massiv zu reduzieren. Doch Wüst deutete die Last in eine Chance um. Im Podcast "Wirtschaft aktuell" sagte er Anfang 2021: "Nachdem 30 Jahre in den Osten investiert werden musste, war der Westen wieder dran." Bund und Land hätten "ausgiebig Geld zur Verfügung gestellt, auf Jahre, auch in die Zukunft, durchfinanziert." Das sei auch ein Verdienst seines Vorgängers Michael Groschek (SPD).

Und wie hat Wüst sich als Verkehrsminister geschlagen? Der WDR und infratest dimap haben im NRW-Trend 2017 und 2022 jeweils vor der Landtagswahl gefragt, welche Partei im Bereich Verkehr die Aufgaben am besten löst. Die CDU stürzt um 14 Prozentpunkte ab, landet auf Platz zwei hinter den Grünen.

Der Meister des Sowohl-als-auch

Rhetorisch ist Wüst äußerst wendig: Innerhalb von nur drei Sätzen schafft er es, eine Entscheidung zugleich zu verteidigen und auf den Prüfstand zu stellen. So zum Beispiel in einem ARD-Interview zur Corona-Politik im November 2021. Es ging um das bevorstehende Bundesliga-Derby zwischen Köln und Mönchengladbach vor 50.000 Zuschauenden - trotz hoher Infektionszahlen.

"Wir haben in dieser Woche beschlossen", sagte Wüst, "dass überall im Freizeitbereich 2G gilt, auch in einem Stadion, an der frischen Luft. Ich glaube, das ist bei der Lage in Nordrhein-Westfalen eine angemessene Entscheidung. Aber richtig ist, dass wir immer wieder auf den Prüfstand stellen müssen, was die angemessenen Reaktionen sind in der Pandemie."

Nach dem Spiel, dessen Bilder einer jubelnden Menschenmenge deutschlandweit für Aufsehen sorgten, sagte Wüst entschieden: "Solche Bilder wie in Köln darf es nicht wieder geben."

Immer wieder umschifft Wüst in Interviews die raue See konkreter Festlegungen und steuert lieber in die ruhigen Gewässer des Sowohl-als-auch.

"Mallorca-Gate", ein Rücktritt, eine offene Frage

Doch die Methode der Nicht-Festlegung hat Grenzen. Über weite Strecken ist der Wahlkampf in NRW von "Mallorca-Gate" geprägt: Ursula Heinen-Esser hatte als Umweltministerin unmittelbar nach der Flutkatastrophe Mitte Juli 2021 ihren Urlaub auf Mallorca fortgesetzt. Länger als zunächst angegeben. Und dort mit weiteren Kabinettsmitgliedern den Geburtstag ihres Ehemanns gefeiert. Als all das scheibchenweise bekannt wird, schlagen die Wellen der Empörung hoch - und tragen Heinen-Esser aus dem Amt. Die Einsicht zum Rücktritt wurde wohl durch Wüst befördert. Auf Fragen, wann er was wusste, antwortet er ausweichend.

Sollte Wüst bei der Landtagswahl am 15. Mai den Wahlsieg erringen, dann wird das seine Position auch in der Bundes-CDU massiv stärken. Friedrich Merz, der Mann aus dem Sauerland, wird auch mit Blick auf seine eigene Position die "kleine Bundestagswahl" aufmerksam verfolgen. Und auch Markus Söder wird gespannt nach Düsseldorf schauen. Wüst, Merz, Söder - sie alle können das gleiche konservative Profil bedienen.

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