Robert Habeck besucht das Atatürk Mausoleum in Ankara.
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Wirtschaftsminister und Vizekanzler Wenn Robert Habeck an Grenzen stößt

Stand: 28.10.2023 10:55 Uhr

Brückenstrompreis, Schuldenbremse, Migration - immer wieder stößt Wirtschaftsminister und Vizekanzler Habeck auf Widerstand - auf nationaler und internationaler Ebene. Und auch der grüne Nachwuchs signalisiert Gegenwehr.

Eine Analyse von Daniel Pokraka, ARD Berlin und Lothar Lenz, ARD-Hauptstadtstudio

Es waren nur drei Worte - ein unscheinbarer, kurzer Satz, den Robert Habeck kurz vor Ende seiner Pressekonferenz am Dienstag dieser Woche formulierte: "Nicht aufhören, nachzudenken." Eine Aufforderung, die schnell ausgesprochen ist, aber erst auf lange Distanz auch eingelöst werden kann.

Der Bundeswirtschaftsminister und grüne Vizekanzler hat sich das Prinzip des ständigen Infragestellens als Selbstverpflichtung auferlegt - doch er wünscht sich diese Gedankenfreiheit auch von seinem jeweiligen Gegenüber. Ziele und Überzeugungen immer wieder zu relativieren, eigene Positionen ebenso wie konkrete gesetzgeberische Projekte unentwegt daraufhin zu beleuchten, ob sie noch in die Zeit passen - das ist das politische Prinzip Robert Habecks.

Nicht aufhören, nachzudenken: Gerade in dieser Woche konnte man einen Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler erleben, der genau dabei immer wieder an Grenzen stößt. Der sich damit arrangieren muss, dass nicht alles, was er selbst für sinnvoll und gerechtfertigt hält, auch mehrheitsfähig ist - und dass ihm politische Gesprächspartner begegnen, deren Sicht auf die Weltlage in krasser Weise von der eigenen abweicht.

Habeck verspricht Bürokratieabbau - doch was wird daraus?

Dienstagnachmittag im Bundeswirtschaftsministerium: Der Hausherr Habeck erläutert seine Industriestrategie für die kommenden Jahre. Der Minister hat ein fast 60-seitiges Thesenpapier zusammengestellt, das die Herausforderungen auflistet, denen der Industriestandort Deutschland gegenübersteht: hohe Energiepreise, brüchige Lieferketten, endlose Genehmigungsverfahren und nicht zuletzt ein grassierender Fachkräftemangel, der sich mit dem Renteneintritt der Babyboomer-Generation noch verschärfen wird.

Gegenmaßnahmen sind dringend gefragt. Habeck verspricht also vor Kameras und Mikrofonen, Bürokratie abzubauen - sein Ministerium überprüfe gerade sämtliche Berichtspflichten für Unternehmen. Fast vorsichtig ergänzt Habeck, er gehe jetzt mal davon aus, dass auch die anderen Bundesministerien an ähnlichen Projekten arbeiteten. Denn der Wirtschaftsminister weiß: Damit wird es längst nicht getan sein.

Praktisch jedes Unternehmen in Deutschland klagt über eine geradezu erstickende Bürokratie, von der Biobäuerin auf ihrem Hof im Allerland bis zum Vorstandschef des VW-Konzerns. So oft die Politik versprochen hat, den Staat jetzt aber wirklich zu verschlanken - passiert ist meist das Gegenteil.

Pochen auf Stromsubvention - Widerstand von SPD und FDP

Dann das nächste Thema: die hohen Strompreise in Deutschland, unter denen vor allem Großverbraucher leiden. Glashersteller, die Zementindustrie, Stahlwerke, die Chemiebranche. "Wir müssen diese Unternehmen in Deutschland halten“, appelliert Habeck und fordert - zum wiederholten Mal - einen Brückenstrompreis, staatlich subventionierte Energie also für industrielle Großkunden.

Natürlich hat Robert Habeck dabei ins Kalkül gezogen, dass der Bundeskanzler recht wenig von dieser Forderung hält, und dass Finanzminister Christian Lindner die Stromsubventionen sowohl wegen der schwer kalkulierbaren Kosten als auch wegen einer möglichen Wettbewerbsverzerrung ablehnt. Nichts zu machen also, solange die Ampel regiert.

Was den Bundeswirtschaftsminister aber nicht dazu bringt, die Forderung fallenzulassen. "Ich habe viele Verbündete", sagt er trotzig vor der Presse - und schätzt die Chancen auf eine Realisierung des Brückenstrompreises auf "50 zu 50" ein. Man kann aus seinem leichten Schmunzeln nicht ablesen, ob er selbst das für eine optimistische oder eine pessimistische Prognose hält.

Reform der Schuldenbremse - ohne die FDP

Noch deutlicher wird das Habeck-Prinzip beim Thema "Schuldenbremse". An der grundgesetzlich verankerten Begrenzung der Kreditaufnahme des Bundes will die Ampelregierung nicht rütteln, so steht es im Koalitionsvertrag. Habeck schickt voraus, dass er sich natürlich an diese Abrede halten wolle und werde.

Dann aber argumentiert er, dass die Schuldengrenze aus einer Zeit stamme, die mit der heutigen nichts mehr zu tun habe. Denn den Herausforderungen in der Mitte der 2020er-Jahre - den geopolitische Verschiebungen, Energiekrisen, der Transformation der Industrie von fossilen zu erneuerbaren Energien - lasse sich mit den Werkzeugen von gestern eben nicht begegnen, argumentiert Habeck.

Seine Forderung, die Finanzverfassung des Bundes zu reformieren, will er dann eben als Denkanstoß für die nächste Legislaturperiode verstanden wissen. "Er geht wohl davon aus, dass die FDP dann nicht mehr mitregiert", kommentieren Beobachter nach der Pressekonferenz das ungewöhnliche Plädoyer des Vizekanzlers.

Türkei-Besuch überschattet vom Nahost-Krieg

Ortswechsel: Am Tag darauf fliegt Habeck zu politischen Gesprächen nach Ankara. Der Besuch in der Türkei ist von langer Hand geplant, eigentlich sollten sich Habecks Gespräche mit den türkischen Ministerkollegen um Handelshemmnisse drehen, um Perspektiven der Energieversorgung - Routinedinge eben.

Doch Habecks Türkei-Visite wird überschattet vom Krieg in Nahost. Die Türkei gilt schon lange als Verbündeter des politischen Arms der Hamas. Kurz vor Habecks Ankunft bezeichnet der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan die Hamas dann auch noch öffentlich als "Befreiungsorganisation".

Habeck muss das Thema bei seinen Treffen natürlich ansprechen - und möchte im Namen der Bundesregierung zumindest erreichen, dass die Türkei ihre Hamas-Kontakte dazu nutzt, auf die Befreiung der Geiseln im Gazastreifen hinzuwirken.

Die Türkei steht auf der Seite der Palästinenser

Doch der Vizekanzler stößt offenbar auf eine türkische Position, die für ihn schwer auszuhalten ist. 40 Minuten, doppelt so lange wie vom Protokoll geplant, dauert seine Unterredung mit dem stellvertretenden türkischen Staatspräsidenten, Cevdet Yilmaz, und als Habeck wenig später vor die Presse tritt, ist ihm anzumerken, dass es keine einfache Unterhaltung war.

Man habe seine gegensätzlichen Auffassungen unterstrichen, sagt er diplomatisch - und Beobachter lesen daraus: Es wird nicht sehr freundlich zugegangen sein bei diesem Gespräch. Die Türkei sieht sich als Führungsmacht der islamischen Welt und stellt sich klar auf die Seite der Palästinenser. Für die Position Deutschlands, das die Hamas als Terrororganisation betrachtet und Israel ein Verteidigungsrecht einräumt, findet Habeck in Ankara keinerlei Verständnis.

Als er am gleichen Nachmittag einen Kranz am gigantischen Mausoleum für den Staatsgründer Kemal Atatürk niederlegt - ein Pflichttermin für ausländische Gäste in Ankara - ist Habecks tiefe Enttäuschung mit Händen zu greifen. Eher schleppend schreitet er den Wachsoldaten auf dem Paradeplatz hinterher, jede Spannung scheint aus dem Körper des Ministers gewichen zu sein. Wohl selten war Robert Habeck, der den Pazifismus zuletzt als "fernen Traum" bezeichnete, ein militärisches Ritual so fremd.

Keine Begrenzung der Migration durch die Türkei in Sicht

Umso schöner wäre ein politisches Erfolgserlebnis: Doch der Vizekanzler stößt in der Türkei nicht nur beim Thema Israel auf Ablehnung, auch bei der Begrenzung der Migration gibt es wenig Bewegung. Die Türkei gilt hierfür als Schlüsselland. Afghanistan oder Syrien, Iran oder Irak - wer sich von hier aus aufmacht, um schließlich in Deutschland Asyl zu beantragen, der kommt nicht übers Mittelmeer und die italienische Insel Lampedusa, sondern durch die Türkei.

Die EU will das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei erneuern, das Land soll Migranten an der Weiterreise hindern. Daran hat die Türkei erst einmal wenig Interesse, weil sie selbst schon Millionen Flüchtlinge im Land hat. Die EU muss also eine Gegenleistung liefern - und Geld allein wird nicht reichen.

Erleichterungen für Türken bei der Visa-Erteilung könnten hilfreich sein. Das wünschen sich nicht nur Millionen Türkinnen und Türken, sondern auch deutsche Unternehmen mit Standorten und Mitarbeitenden in der Türkei. Sie haben große Schwierigkeiten, ihr Personal zum Beispiel für eine Schulung oder eine Messe nach Deutschland reisen zu lassen.

In erster Linie sind bei dem Thema natürlich die Außen- und die Innenministerin gefragt, aber auch der Wirtschaftsminister und Vizekanzler wirft sein Gewicht in die Waagschale. Doch konkrete Fortschritte kann Habeck in Ankara beim Thema Migrationsbegrenzung nicht verkünden, nur soviel: Seine Gesprächspartner seien bereit, darauf hinzuwirken, dass "die Türkei als Fluchtkorridorland weniger wichtig wird."

Grünen-Parteitag mit viel Streitpotenzial

Migration im eigenen Land begrenzen - für den grünen Vizekanzler ist das längst kein Tabu mehr. Im Gegenteil: Mit Bundeskanzler Scholz und Finanzminister Lindner hat sich Habeck kürzlich auf strengere Abschieberegeln verständigt - für Ampel-Verhältnisse bemerkenswert geräuschlos.

Doch spätestens in einem Monat könnte es nochmal laut werden beim Themenkomplex Migration, Asyl und Abschiebungen: beim Grünen-Parteitag in Karlsruhe nämlich. Der wird ganze vier Tage dauern - reichlich Zeit für Streit. Es gibt Grünen-Mitglieder, die nicht zuletzt wegen des Umgangs mit geflüchteten Menschen in der Partei sind - Kritiker der "Festung Europa", Vertreter von "Refugees welcome".

Die neuen Chefinnen der Grünen Jugend, Svenja Appuhn und Katharina Stolla, haben den Ton schon gesetzt: Dem "Spiegel" sagten sie, die Ampel brauche eine 180-Grad-Wende, denn "wir erleben (…) eine systematische Entrechtung von Geflüchteten". Habeck wird seine liebe Mühe haben, diesen Teil der Grünen zumindest zum Nachdenken zu bringen über die eigene Position.

Vielleicht war die Grünen-Regel, dass Bundesminister nicht gleichzeitig Parteivorsitzende sein dürfen, für Habeck nie so wertvoll wie heute: Er muss beim Parteitag zwar die Flüchtlingspolitik der Ampelkoalition vertreten - sich aber nicht auch noch einer Wahl stellen.