Interview

Pädagoge zu Integration von Behinderten "Lehrer fühlen sich allein gelassen"

Stand: 03.05.2013 17:37 Uhr

Beim Thema Inklusion hat Deutschland noch jede Menge Nachholbedarf. "Manche Länder haben das schlichtweg verschlafen", meint der Pädagoge Udo Beckmann im Interview mit tagesschau.de. Die Versäumnisse der Politik müssten nun Lehrer und Kinder ausbaden.

tagesschau.de: Die UN-Behindertenrechtskonvention, die 2009 vom Bundestag ratifiziert wurde, gesteht jedem behinderten Kind das Recht zu, eine allgemeinbildende Schule zu besuchen. Darum geht es beim Thema Inklusion. Sind die Schulen darauf vorbereitet?

Udo Beckmann: Nein, nicht hinreichend. Es hat zwar immer einzelne Schulen gegeben, die sich im Rahmen des gemeinsamen Unterrichts bereits auf den Weg gemacht haben. Aber die UN-Konvention schreibt ja fest, dass alle Regelschulen sich darauf vorbereiten müssen, Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam zu unterrichten. Und obwohl die Konvention bereits 2009 unterschrieben wurde, tun die Länder nun so, als würde diese Aufgabe plötzlich vom Himmel fallen und verfallen in eine große Hektik.

Zur Person
Udo Beckmann ist Bundesvorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE). Seit November 2010 ist er Mitglied des Expertenkreises Inklusive Bildung der Deutschen UNESCO-Kommission. Seit 1987 ist er ständiges Mitglied im Hauptpersonalrat für Lehrerinnen und Lehrer an Grund- und Hauptschulen beim Schulministerium von NRW.

tagesschau.de: Woran fehlt es konkret?

Beckmann: Zum einen am Personal: Wenn man Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichten will, muss man auch dafür sorgen, dass es an den Regelschulen zusätzlich Lehrer mit sonderpädagogischer Fachausbildung gibt. Hinzu kommt, dass wir zusätzliches Personal wie Integrationshelfer und Psychologen brauchen. An beidem fehlt es bislang noch. Außerdem sind die Lehrer auf diese neue Aufgabe nicht genügend vorbereitet. Wir brauchen ein umfangreiches Paket an zusätzlichen Fortbildungen. Da ist noch nicht genug im Angebot.

Auch baulich sind viele Schulen noch nicht in der Lage, Kinder mit Behinderung aufzunehmen. Es fehlt an Rollstuhlrampen und speziellen Räumlichkeiten. Das müssten die Kommunen finanzieren, denen fehlt es aber Geld. Vielerorts gibt es deshalb Streit zwischen kommunalen Spitzenverbänden und Landesregierungen.

"Es ist eine riesige Belastung"

tagesschau.de: Wie kommt es zu den großen Unterschieden bei der Umsetzung der Forderung UN-Konvention nach Inklusion?

Beckmann: Einige Länder haben eben früh angefangen, andere haben das Thema schlichtweg verschlafen. Bremen und Schleswig-Holstein sind beispielsweise schon sehr weit und fördern über die Hälfte aller behinderten Kinder in Regelschulen, während Niedersachsen Schlusslicht ist.

Manche Länder wollen das inklusive Lernen durch spezielle Schwerpunktschulen umsetzen, manche wollen die Förderschulen beziehungsweise Sonderschulen beibehalten, andere nicht. Bei all dem kommt auch die politische Diskussion über die Gesamtschule wieder auf. Manche Politiker sagen, wenn wir Inklusion umsetzen wollen, müssten wir eigentlich eine Schule für alle machen. Andere Länder, wie Bayern, sehen kein Problem darin inklusives Lernen innerhalb der verschiedenen Schulformen umzusetzen.

tagesschau.de: Wie meistern die Lehrer inklusiver Klassen derzeit die Situation?

Beckmann: Es ist eine riesige Herausforderung und Belastung. Die Rahmenbedingungen stimmen noch nicht, trotzdem fängt man hier und da schonmal an und das geht auf Kosten der Lehrer und der Schüler. Wir haben ja jetzt schon in vielen Schularten viel zu große Klassen und dann sollen auch noch behinderte Kinder aufgenommen werden. Das geht nicht. Wir fordern deshalb eine maximale Schülerzahl von 25 und jedes behinderte Kind sollte doppelt gezählt werden. Aber dieser Standard wird fast überall unterschritten, was dazu führt, dass man weder den einen, noch den anderen gerecht werden kann.

Die Lehrer der allgemeinbildenen Schulen fühlen sich mit den Problemen allein gelassen, weil die Sonderpädagogen pro Kind in der Regel nur zwei bis drei Stunden in der Woche zur Verfügung stehen. Das ist viel zu wenig. Die restliche Zeit haben sie überhaupt keine weitere Unterstützung. Es müsste in inklusiven Klassen durchgängig eine Doppelbesetzung aus Lehrern und Sonderpädagogen geben.

"Beide Seiten können enorm profitieren"

tagesschau.de: Wie viel Geld müsste dafür zusätzlich aufgebracht werden und woher soll das kommen?

Beckmann: Wie viel das kostet, wissen wir nicht. Wir haben die Länder mehrfach aufgefordert, eine Kostenschätzung vorzulegen, aber dazu sind sie bisher nicht bereit. Für die Sachkosten sind die Kommunen zuständig, für die Personalkosten die Länder. Aber allein können sie das nicht stemmen. Auch der Bund müsste in die Finanzierung eingebunden werden. Aber die Krux ist, dass der Bund wegen des Kooperationsverbotes nicht direkt in schulische Bildung investieren darf. Es wird nur funktionieren, wenn dieses Verbot gekippt wird.

tagesschau.de: Was erhofft man sich denn vom inklusiven Lernen?

Beckmann: Wir haben als Gesellschaft nunmal den Anspruch, dass kein Mensch ausgegrenzt werden soll. Wenn man aber nun sagt: 'Du gehörst wegen deiner Behinderung in die Sonderschule und die anderen gehen in andere Schule', dann tut man genau das. Und wenn die Rahmenbedingungen stimmen, dann können beide Seiten enorm davon profitieren. Kinder mit Behinderung bekommen Anregungen von den anderen und haben dadurch einen Lernzuwachs. Gleichzeitig erleiden nicht behinderte Kinder keinen Nachteil, sondern gewinnen enorm an sozialer Kompetenz.

"Auch Eltern mit Vorbehalten überzeugt"

tagesschau.de: Viele Eltern haben aber Angst, ihr nicht behindertes Kind könnte ausgebremst werden. Ist diese Angst nicht berechtigt?

Beckmann: Meines Erachtens nicht. Es gibt viele Erfahrungsberichte die zeigen: Die meisten Eltern von Kindern, die mit behinderten Kindern zusammen lernen, waren hinterher zutiefst überzeugt, dass Inklusion der richtige Weg ist und dass ihre Kinder davon profitieren. Übrigens teilen diese Einschätzung auch Eltern die vorher Vorbehalte hatten.

tagesschau.de: Könnte es nicht sein, dass bei bestimmten Behinderungen Kinder auf einer Sonderschule gezielter gefördert werden könnten?

Beckmann: Zahlenmäßig ist die Gruppe der Kinder mit Lern- und Sprachbehinderungen sowie mit sozialen und emotionalen Störungen die größte Gruppe. Die Kinder mit Lern- und Sprachbehinderungen sind bei guten Rahmenbedingungen die am leichtesten inklusiv zu beschulen. Fakt ist aber auch, dass bei Kindern mit Schwerst- und Schwerstmehrfachbehinderungen eine inklusive Beschulung besonders verantwortlich überlegt werden sollte.

Das Interview führte Sandra Stalinski, tageschau.de

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