Stimmabgabe für Referendum in Deutschland:
interview

Wahl der Deutschtürken "Keine Frage der Integration"

Stand: 18.04.2017 16:02 Uhr

Hat es mit mangelnder Integration zu tun, dass so viele Deutschtürken pro Erdogan gestimmt haben? Nein, sagt der Politologe Seyder. Er sieht ein Bündel von Gründen - und befürchtet, dass sich die Kluft zwischen den Türken in Deutschland noch vertiefen wird.

tagesschau.de: Bei dem Referendum über die Einführung des Präsidialsystem in der Türkei haben 63 Prozent aller Türken in Deutschland, die zur Wahl gegangen sind, für Erdogan und das Präsidialsystem gestimmt. Wie erklären Sie sich dieses Ergebnis?

Ferhad Seyder: Die Türken in Deutschland haben große Sympathien für die AKP. Die Partei regiert seit 2002, und die Entwicklung in diesen letzten 15 Jahren war in ihren Augen nicht nur negativ. Die wirtschaftliche Entwicklung war positiv, und die Beziehungen der türkischen Regierung zur Europäischen Union hat sich ihrer Ansicht nach auch gut gestaltet.

Außerdem spielt da noch ein weiterer Faktor eine Rolle: Man hatte das Gefühl, dass die Türkei von allen Seiten angegriffen wurde. Die in Deutschland lebenden Türken wollten ihre alte Heimat also in den Schutz nehmen.

Ferhad Seyder
Zur Person
Prof. Dr. Ferhad Seyder leitet im Fachbereich Sozialwissenschaften die Mustafa Barzani Arbeitsstelle für Kurdische Studien an der Universität Erfurt. Der Islamexperte hat sich an der Freien Universität Berlin in Politikwissenschaft habilitiert.

"Noch nie eine perfekte Demokratie"

tagesschau.de: Aber bei diesem Referendum ging es ja nicht um ein Ja oder Nein zur Türkei als Staat, sondern es ging um ein neues politisches System.

Seyder: Ja, das Präsidialsystem stärkt jetzt natürlich den Präsidenten, und das sind alles keine erfreulichen Dinge. Aber die Türkei war noch nie eine perfekte Demokratie, es gab immer Defizite. Die türkische Demokratie ist eben keine westliche Demokratie.

tagesschau.de: Viele der Türken, die für das Präsidialsystem gestimmt haben, sind in Deutschland zur Schule gegangen, sind in unserer Demokratie groß geworden. Warum votieren sie trotzdem für ein autoritäres Staatssystem?

Seyder: Hier kommt der Nationalismus ins Spiel. Wenn Erdogan in Deutschland kritisiert wird, haben die in Deutschland lebenden Türken das Gefühl, dass die Türkei angegriffen wird.

"So ein Gefühl: Das ist ungerecht"

tagesschau.de: Also handelt es sich um eine Trotzreaktion?

Seyder: Ja, und hinzu kommt, dass die AKP die Kritik an Erdogan als Medienkampagne dargestellt hat. Da kam dann unter Deutschtürken so ein Gefühl auf wie: Das ist ungerecht.

tagesschau.de: Aber noch einmal: Fühlen sich Türken, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, die vielleicht deutsche Partner haben und in deutschen Unternehmen arbeiten, nicht als Deutsche?

Seyder: Sie fühlen sich natürlich als Deutsche. Aber in bestimmten Situationen glaubt man, dass man die alte Heimat verteidigen muss. Denn der türkische Nationalismus ist nie erloschen. Er ist Bestandteil der türkischen Republik seit Kemal Atatürk, das hat also etwas mit Tradition zu tun. Es klingt vielleicht merkwürdig, aber man kann ein deutscher Bürger sein, aber man hört eben auch nie auf, türkischer Bürger zu sein.

tagesschau.de: Aber im Vergleich zu anderen Ländern, in denen Türken gewählt haben - wie zum Beispiel in den USA und Kanada - gab es in Deutschland sehr viel mehr Wähler, die für das Präsidialsystem gestimmt haben. Warum ist das so? Sind hier andere Bevölkerungsschichten eingewandert als in die USA oder Kanada?

Seyder: In Deutschland gibt es eine sehr viel größere türkische Einwanderungsgruppe als in den USA und Kanada - gemessen an der Gesamtbevölkerung und an anderen eingewanderten Gruppen. Und je größer die Gruppe ist, desto empfänglicher ist sie eben auch für Propaganda.

"Erdogan gewinnt ja eh"

tagesschau.de: Wenn man sich die Zahlen der türkischen Wähler in Deutschland genauer ansieht - nur 50 Prozent Wahlbeteiligung von insgesamt 1,4 Millionen wahlberechtigten Türken, davon stimmten dann 63 Prozent für das Präsidialsystem - ist die Zahl dann immer noch aussagekräftig?

Seyder: Man muss auf die Zusammensetzung der Wählergruppen blicken. Hier spielen auch die unterschiedlichen ethnischen Zugehörigkeiten eine Rolle. Die Aleviten in Deutschland sind mehrheitlich gegen Erdogan und die AKP, die Kurden haben auch gegen Erdogan gestimmt.

Die konservativen Türken haben über viele Netzwerke, auch religiöse Netzwerke, Türken in Deutschland mobilisiert, für die Verfassungsänderung zu stimmen. Der Grad der Mobilisierung war frappierend. Viele Erdogan-Gegner in Deutschland haben auch schlichtweg resigniert, nach dem Motto: Ich kann ja sowieso nichts daran ändern, es hat keinen Zweck, dass ich mich bemühe, Erdogan gewinnt ja eh.

tagesschau.de: Also gibt es jetzt zwei große Lager in Deutschland: für und gegen Erdogan?

Seyder: Richtig.

tagesschau.de: Vertieft dieses Referendum noch den Graben zwischen diesen beiden Lagern?

Seyder: Ich denke schon. Die Türkei ist polarisiert, und die türkische Gemeinde in Deutschland ist es auch. Bei der Gruppe derjenigen, die gegen Erdogan sind, gibt es aber noch weitere Spaltungen. Die Kurden und die Anhänger der sozialdemokratischen Partei in der Türkei beispielsweise haben keinen gemeinsamen Nenner.

Und genau das ist die Stärke von Erdogan: Er schafft es immer wieder, das Gegenlager zu spalten, während er sein eigenes Lager eint. Er hat von der iranischen Grenze bis nach Anatolien, von Osten bis Westen einen Block aus Anhängern geschaffen, und der ist sehr stabil. Und es ist einmalig in der Geschichte der Türkei, dass so ein Block stabil bleibt.

tagesschau.de: Wenn nun aber die Türken in Deutschland dafür stimmen, dass türkische Bürger in der Türkei auch Rechte verlieren, tun sie das dann auch, weil es sie ja nicht persönlich tangiert?

Seyder: Sie erhoffen sich durch die neuen, autoritären Strukturen auch eine stärkere Waffe im Kampf gegen Terrorismus. Sie dürfen auch nicht vergessen: Außerhalb der türkischen Grenzen, aber in unmittelbarer Nähe zur Türkei, finden Bürgerkriege und Giftgasangriffe statt, und die Deutschtürken rechnen es der Türkei hoch an, dass sie bei all dem relativ stabil geblieben ist.

"Das hat nichts mit verfehlter Integration zu tun"

tagesschau.de: Was antworten Sie auf den Vorwurf, dass das Abstimmungsverhalten der Deutschtürken ein Versäumnis der deutschen Integrationspolitik ist?

Seyder: Das ist eine lange Geschichte von 55 Jahren, die Geschichte der türkischen Gemeinde in Deutschland, und ich denke, die Integration ist großenteils gut verlaufen, die Leute haben sich in vielen Teilen Deutschlands gut angepasst. Die kulturellen Bindungen zur Türkei sind aber geblieben, und über diese kulturellen Verbindungen schmuggelt sich die Politik rein, und die Politik beeinflusst das Bewusstsein der Menschen.

Auffällig ist, dass die dritte Generation von türkischen Einwanderern sich der Türkei genauso stark verbunden fühlen wie die erste. Das hat nichts mit verfehlter Integration oder Bildungsferne zu tun. Ich persönlich kenne viele Ärzte und Juristen türkischer Abstimmung, die in privaten Gesprächen für Erdogan plädieren.

Das Interview führte Maiken Nielsen für tagesschau.de

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