Schilder weisen auf das Einhalten der Regeln zur Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie hin
Interview

Virologe Schmidt-Chanasit "Wenige und wirksame Maßnahmen"

Stand: 26.11.2020 15:04 Uhr

Nach den Beschlüssen von Bund und Ländern hat der Hamburger Virologe Schmidt-Chanasit für gezielte Maßnahmen plädiert. Im Gespräch mit tagesschau24 sagte er, nur begründete, wenige Maßnahmen würden zum Erfolg führen.

tagesschau24: Herr Schmidt-Chanasit, können Sie sagen, warum die November-Maßnahmen nicht so gewirkt haben wie erwünscht?

Schmidt-Chanasit: Nein, das ist schwer, weil diese Datengrundlage fehlt. Welche Maßnahme kann welchen Effekt hervorrufen? Das ist die entscheidende Frage, aber auch ganz wichtig, diese Frage zu beantworten, weil die Maßnahmen gegenüber der Bevölkerung ja begründet werden müssen. Denn nur das führt natürlich dazu, dass diese Maßnahmen auch eingehalten und befolgt werden. Und je mehr Maßnahmen es gibt, deren Wirkungen nicht klar sind, desto schwieriger wird es natürlich.

tagesschau24: Ist es dann sinnvoll, im Wesentlichen an den bisherigen Maßnahmen festzuhalten und nur punktuell zu verschärfen?

Schmidt-Chanasit: Man muss sich da Maßnahme für Maßnahme anschauen. Es gibt sehr, sehr sinnvolle Maßnahmen. Gerade was die Kanzlerin gestern gesagt hat, dass wir uns noch stärker darauf fokussieren, die Alten- und Pflegeheime zu schützen, weil dort nach wie vor besonders viele Sterbefälle auftreten. Das ist eine absolut zielführende und richtige Maßnahme.

Andere Maßnahmen zum Beispiel, wie die Anzahl der Menschen in den Läden zu reduzieren, da ist es meines Erachtens unklar von der Datenlage her, ob dort wirklich so viele Infektionen aufgetreten sind, dass diese zusätzliche Maßnahme dazu führt, die Fallzahlen entsprechend stark zu senken. Aber wir kommen nicht darum, der Bevölkerung jede Maßnahme sehr gut zu erklären. Das ist meines Erachtens das Entscheidende, weil ohne Mitwirkung der Bevölkerung nutzen auch die besten Maßnahmen nichts.

tagesschau24: Es werden aber auch gleichzeitig Hoffnungen geschürt, dass es zu Weihnachten Lockerungen gibt. Wie sehen Sie das?

Schmidt-Chanasit: Die Lockerungen sind beschlossen, dass es diese Woche zwischen den Feiertagen gibt. Wir müssen sehen, ob es dann zu einem Jojo-Effekt kommt. Damit wäre natürlich keinem geholfen, wenn wir Anfang Januar wieder eine kritische Situation haben, um dann über einen viel stärkeren Lockdown nachzudenken.

Insofern kann ich nur appellieren, dass es wichtig ist, hier eine langfristige, nachhaltige Strategie zu etablieren und diese möglichst mit einfachen, nachvollziehbaren Maßnahmen, die auch durchsetzbar und umsetzbar sind. Da kann man noch viel tun. Gerade im Rahmen der klassischen Sozialarbeit muss man versuchen, besser in die Bevölkerungsgruppen hineinzuwirken, was bisher fast nicht gelungen ist. Und das gelingt nicht nur durch Appelle, sondern natürlich auch durch Angebote.

tagesschau24: Es gibt auch ein großes Ringen um eine einheitliche Strategie zwischen Bund und Ländern. Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Günther kritisiert, es sei nun gerade das falsche Signal, Hoffnungen auf Weihnachten im Familienkreis zu machen. Und zum Beispiel Kinder unter 14 Jahren beim Personenkreis nicht mitzuzählen. Hat er da recht?

Schmidt-Chanasit: Die Gefahr besteht, dass es einen Jojo-Effekt gibt, durch die Lockerungen zu Weihnachten und dass wir dann eine kritische Situation Anfang Januar haben. Wir haben dann die Probleme, die wir eigentlich Anfang November schon gesehen haben und weshalb der Wellenbrecher-Shutdown ja beschlossen wurde, nur in die Zukunft verschoben. Eine langfristige Lösung wäre dann letztendlich mit den Maßnahmen nicht ermöglicht. Es ist ganz wichtig, dass wir uns für die nächsten Monate und eben nicht nur bis Weihnachten darüber Gedanken machen, wie wir gut weiter durch die Pandemie kommen, ohne dass es zu einer Überlastung des Gesundheitssystems kommt.

tagesschau24: Gerade Silvester kommen ja traditionell viele Menschen zusammen - auch unter Alkoholeinfluss. Aber gerade hier gibt es nun keine Verbote, sondern bisher nur Appelle an die Bevölkerung. Macht Ihnen das Sorgen?

Schmidt-Chanasit: Ja, gerade wenn man den Diskurs verfolgt und Böllerverbot und Alkohol komplett ausblendet. Ich glaube, das viel größere Problem ist der Alkohol und weniger die Böller. Aber die Entscheidung ist nun gefallen, und ich kann nur hoffen, dass es dazu führt, dass die Fallzahlen niedrig bleiben, sich stabilisieren oder sogar sinken. Da wären wir alle sehr glücklich. Und dann können wir auf dem niedrigen Niveau wirklich diese langfristigen Maßnahmen hoffentlich auch etablieren.

tagesschau24: Würden Sie sagen, es müssten noch Maßnahmen darüber hinaus ergriffen werden?

Schmidt-Chanasit: Es geht darum, wenige Maßnahmen und wirksame Maßnahmen konsequent durch- und umzusetzen. Und dies zusammen mit der Bevölkerung. Das zeigen alle Erfahrungen aus vergangenen Epidemien. Das ist das Entscheidende.

Fokus auf Schulen nicht überbetonen

tagesschau24: Im Bundestag wurde heute auch kritisiert, dass es zwar teilweise strenge Maßnahmen an den Schulen gibt, aber dass sich die Kinder vor und nach dem Unterricht in vollen Schulbussen drängen. Ist da etwas versäumt worden?

Schmidt-Chanasit: Ich bin nicht hier, um Vorwürfe zu machen. Man kann darüber nachdenken, auch den Weg zur Schule etwas zu entzerren, zusätzlich dafür zu sorgen, dass es dort nicht zu Ansammlungen kommt, wo die älteren Schüler auch längere Zeit zusammenkommen. Aber man kann natürlich nicht alles hundertprozentig absichern, und ich glaube, man sollte den Fokus auf die Schulen auch nicht überbetonen.

Ich glaube, das viel größere Problem ist in den Alten- und Pflegeheimen und auch bei den älteren Mitbürgern, die nicht in Alten- und Pflegeheimen wohnen. Hier muss man über die niedergelassenen Ärzte und über die Hausärzte stärkere Hilfe etablieren, zum Beispiel auch Angebote für Testungen anbieten.

Dort sollten die Ressourcen noch viel stärker konzentriert werden. Denn die Probleme auf den Intensivstationen schaffen ja nicht die Schulen, sondern die Menschen, die besonders stark gefährdet sind. Und das sind über 70-jährige multimorbide Patienten.

Das Interview führte Gerrit Derkowski, tagesschau24.