Hintergrund

Technik und Naturwissenschaften Mythos Fachkräftemangel?

Stand: 15.04.2015 11:41 Uhr

Seit Jahren schlagen die Verbände Alarm, weil ein Fachkräftemangel bei Ingenieuren droht. In letzter Zeit häufen sich jedoch Stimmen, die Entwarnung geben. Ist die viel beschworene Ingenieurslücke also nur ein Mythos?

Von Sandra Stalinski, tagesschau.de

Kaum eine Woche vergeht, in der es keine neue Studie, Umfrage oder Warnung zum Thema Fachkräftemangel in Deutschland gibt. Insbesondere bei den technischen Berufen herrscht Alarmismus: 710.000 Ingenieursstellen müssten bis zum Jahr 2029 altersbedingt ersetzt werden, sagte der Präsident des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI), Udo Ungeheuer, diese Woche am Rande der Hannover-Messe. "Die starke Generation der Babyboomer tritt sukzessive ab und die demografische Entwicklung wird sich damit verschärfen." Zwischen 84.000 und 390.000 Ingenieure würden, je nach Szenario, bis 2029 fehlen.

Seit Jahren warnt der VDI vor einer Ingenieurslücke. Auch das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) und Branchenverbände wiesen in der Vergangenheit immer wieder auf den Mangel bei den sogenannten MINT-Fachleuten hin - Mathematiker, Informatiker und Naturwissenschaftler also.

Stifterverband: "Fachkräftemangel eher nicht"

Dabei mehren sich letzter Zeit auch Stimmen, die Entwarnung geben. So kam jüngst eine Studie des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft zu dem Ergebnis, dass "ein allgemeiner Fachkräftemangel in den MINT-Berufen eher nicht mehr" drohe. Denn die Zahl der Studienanfänger in den Technikfächern ist laut Studie zwischen 2008 und 2013 um 41 Prozent gestiegen.

Der Arbeitsmarktexperte Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung spricht in verschiedenen Medien gar von einer "Fata Morgana" des Fachkräftemangels. Die Berechnungen des VDI würden auf mehr oder weniger willkürlichen Faktoren beruhen. Sein Hauptargument gegen den prognostizierten Fachkräftemangel: Gäbe es einen echten Engpass, würden die Löhne viel deutlicher steigen als sie das bislang tun. Denn wenn ein Gut knapp sei, dann erhöhe das auch die Preise.

Babyboomer gehen bald in Rente

Ist das seit Jahren angemahnte Szenario vom drohenden Fachkräftemangel bei Ingenieuren und Naturwissenschaftlern also nur ein Mythos?

Schwer zu sagen. Denn mit Prognosen ist das immer so eine Sache. Zwar ist unbestritten, dass in den kommenden 15 bis 20 Jahren die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegsgeneration in Rente gehen und deshalb massenweise frei werdende Stellen nachbesetzt werden müssen.

Viel schwieriger sei es aber abzuschätzen, wie viele Fachkräfte in dieser Zeit nachkommen, sagt der Fachkräfteexperte Alexander Kubis vom Institut für Arbeits- und Berufsforschung (IAB) im Gespräch mit tagesschau.de. Man müsse sich deshalb genau anschauen, von welchen Annahmen die einzelnen Prognosen ausgehen. Häufig, erklärt Kubis, setzt man bei Prognosen den Ist-Zustand fort: Man geht also davon aus, dass in zehn oder 20 Jahren nach wie vor viele Fachkräfte in einem bestimmten Bereich gebraucht werden. Und: Man geht meist davon aus, dass die Absolventenzahlen aufgrund kleinerer Geburtsjahrgänge zurückgehen und die Zuwanderung rückläufig ist.

Frühere Prognosen haben sich nicht bewahrheitet

Das ist genau der Grund, warum frühere Prognosen - beispielsweise des VDI - eines massiven Ingenieursmangels in der Gegenwart so nicht eingetreten sind. Denn zum einen steigt momentan die Absolventenzahl - hier zahlt sich das Werben und Alarmschlagen der vergangenen Jahre aus. Zum anderen haben wir momentan auch eine viel stärkere Zuwanderung als in alten Prognosen angenommen. Und: Es wird nicht berücksichtigt, wie sich die Betriebe auf den angekündigten Mangel einstellen. In der Regel reagieren auch sie durch Standortverlagerung oder Lohnerhöhungen auf den Engpass.

Ob es aktuell eine Ingenieurslücke gibt oder nicht, ist umstritten. Auch der IAB-Experte Kubis hat darauf keine eindeutige Antwort. Denn es gebe nicht den einen Indikator, um einen Mangel oder Engpass festzustellen. "Es gibt keinen flächendeckenden Fachkräftemangel in Deutschland, wohl aber Engpässe in einzelnen Branchen und Regionen." So auch in den technischen Berufen.

Engpässe nicht in allen technischen Berufen

Diese regionalen Engpässe kann man sich auf dem Portal zur Fachkräfte-Offensive der Bundesregierung detailliert anschauen. Beim klassischen Elektroingenieur zeigen sich demnach derzeit größere Engpässe nur in Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen. Bei der Energietechnik hingegen färbt sich die Deutschlandkarte durchgängig dunkel: Engpass in allen Bundesländern.

Eine Entwarnung beim Fachkräftemangel wäre also verfehlt. Zumal die "momentan spürbare Entspannung auf dem Arbeitsmarkt viel mit der aktuell hohen Zuwanderung zu tun hat", sagt Kubis. "Und wir gehen nicht davon aus, dass die sich dauerhaft so fortsetzen wird." Vermutlich werde es langfristig vor allem bei den nicht-akademischen Berufen mangeln, sagt er. Denn bei jungen Menschen nimmt die Neigung zu, ein Studium aufzunehmen.

Vor allem bei Gesundheitsberufen klafft eine Lücke

Bei den technischen Berufen, die kein Studium, sondern einen Berufsabschluss voraussetzen, prognostizieren IAB und Bundesinstitut für Berufsbildung in einer gerade veröffentlichten Studie gar einen flächendeckenen Engpass in allen Regionen bis zum Jahr 2030. Und das trifft nicht nur für die technischen Berufe zu.

Gerade auch bei den Gesundheitsberufen, insbesondere in der Pflege, wird sich die Lücke in fast allen Regionen Deutschlands mehr und mehr vergrößern. Weil die aber nicht so eine starke Lobby haben wie die Ingenieure, gehen sie im allgemeinen Getöse des Fachkräftemangels manchmal unter. Schon jetzt fehlen Fachkräfte der Alten- und Krankenpflege, der Rehatechnik und Hörgeräteakustik und natürlich Ärzte. Eine offene Arztstelle zu besetzen, dauerte im Jahr 2014 im Schnitt 151 Tage. Wurde ein Informatiker oder Softwareentwickler gesucht, waren es durchschnittlich 123 Tage.

Laut IAB-Prognose wird es 2030 in vielen Regionen auch bei Wach- und Sicherheitspersonal, in der Gastronomie und auch bei Medien- beziehungsweise geistes- und sozialwissenschaftlichen Berufen zu Engpässen kommen. Dass die Demografiefalle trotz manch gegenteiliger Stimmen in einigen Jahren richtig zuschlägt, gilt also zumindest als wahrscheinlich.

Diesem Problem wird man, so schätzen Experten, nur mit einer weiterhin hohen Zuwanderung beikommen. Und indem man noch viel mehr als bisher versucht, Frauen stärker in den Arbeitsmarkt zu integrieren und die Qualifizierung von Arbeitslosen und jungen Menschen ohne Ausbildung voranzutreiben.

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