Menschen aus Ost- und West-Berlin sind auf die Mauer am Brandenburger Tor in Berlin geklettert
interview

Stiftungsdirektorin zum Mauerfall "Die Folgewirkung der DDR merken wir bis heute"

Stand: 09.11.2024 08:52 Uhr

Auch heute prägt das Ende der DDR viele Debatten. Die Forschung dazu muss besser abgesichert werden, sagt die Direktorin der Bundesstiftung Aufarbeitung, Kaminsky. Sie sieht weiter ein hohes Verwundungs- und Verbitterungspotenzial bei Ostdeutschen.

tagesschau.de: Am Samstag jährt sich der Mauerfall zum 35. Mal. Wie wichtig ist die Beschäftigung mit der Geschichte der DDR heute noch?

Anna Kaminsky: Sie hat sogar eine neue Aktualität bekommen. Nach 1990 ging es zunächst darum, erst einmal Wissen aufzubauen. Wie hat die DDR funktioniert? Wie waren die Strukturen, wie wurde Macht gesichert und durchgesetzt, wer hat die Entscheidungen getroffen: Moskau oder Ost-Berlin? Wie viel Repression gab es? Wer waren die Opfer des Regimes? Wie war das Alltagsleben?

tagesschau.de: Und heute?

Kaminsky: Mittlerweile sind die Jahre 1989/90 nicht mehr der absolute Endpunkt. Stattdessen werden die langen Linien von Entwicklungen in den Blick genommen. Denn die DDR hörte zwar als Staat mit dem 3. Oktober 1990 auf zu existieren. Das heißt aber nicht, dass es keine Nachwirkungen gab. Die anschließende Transformationsgeschichte gewinnt also zunehmend an Bedeutung, ebenso die Einordnung der DDR in die Kommunismus- und die gesamtdeutsche Geschichte.

Und auch wenn mittlerweile ein Konsens darüber herrscht, dass die DDR eine Diktatur war, ist die DDR-Geschichte noch immer heiß umkämpft. Es gibt weiterhin Versuche, sie um- oder gar "neu zu schreiben".

Anna Kaminsky
Zur Person
Anna Kaminsky leitet die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Berlin. Dort sitzt sie seit 2021 auch im Vorstand. Kaminsky forscht und publiziert zu Alltags- und Konsumkultur sowie zu Fragen der Erinnerungskultur.

Unterschiede zwischen Demokratie und Diktatur deutlich machen

tagesschau.de: Mitunter heißt es, die Erkenntnisse der DDR-Forschung brauche es für den Umgang mit heutigen "Gegnern der Demokratie". Trifft das zu?

Kaminsky: So etwas ist nicht das Ziel von Forschung. Die Analyse von Strukturen, Prozessen und Entwicklungen kann aber zumindest dazu beitragen, die Funktionsweise von Diktatur und autoritärer Herrschaft transparent zu machen. Und dazu, Ursachen und Folgewirkungen auseinanderzuhalten.

tagesschau.de: Wenn die AfD "Vollende die Wende" plakatiert, wenn Sahra Wagenknecht sich an "die Endzeit der DDR" erinnert sieht oder wenn Maßnahmenkritiker die Corona-Politik mit der DDR vergleichen - wie sollte die Wissenschaft dann darauf reagieren?

Kaminsky: Forschung kann über laufende Debatten keine Deutungshoheit beanspruchen. Sie kann faktenbasierte Argumentationen für eine gesellschaftliche Auseinandersetzung liefern - auch bei allzu platten Bezugnahmen auf historische Ereignisse. Inwieweit das dann tatsächlich rezipiert wird, hängt von jedem Einzelnen ab. Wichtig bleibt, die Unterschiede zwischen Demokratie und Diktatur deutlich zu machen.

tagesschau.de: Wie sähe das am Beispiel der Pandemie aus?

Kaminsky: Die Corona-Politik war in einigen Bereichen hoch umstritten - unter Rechtswissenschaftlern, unter Soziologen und auch unter Medizinern. Es gilt, deutlich zu machen, dass in einer Demokratie vieles eben nicht alternativlos ist. Autoritäre Systeme hätten eine Impfpflicht einfach angeordnet. In der Bundesrepublik gab es aber eine kontroverse Debatte im Bundestag, an deren Ende keine Impfpflicht eingeführt wurde.

Wir haben da keine "DDR 2.0" erlebt, sondern das Funktionieren demokratischer Strukturen und Institutionen. Umso wichtiger wäre eine Aufarbeitung dieser schwierigen Entscheidungen.

DDR-Forschung braucht Absicherung

tagesschau.de: Kommendes Jahr läuft die 2018 eingerichtete Förderrichtlinie für DDR-Forschung aus. Noch ist unklar, wie es weitergeht, aber laut Bundesforschungsministerium wurden bislang rund 50 Millionen Euro aufgewendet. Was wurde damit erreicht?

Kaminsky: Die vom Ministerium geförderten Forschungsverbünde haben zu einer stärkeren Vernetzung von Universitäten, außeruniversitärer Forschung, Aufarbeitungseinrichtungen und Gedenkstätten beigetragen. Das Ziel jeglicher historischen Aufarbeitung sollte ein Wissenstransfer von Forschung zur täglichen Bildungsarbeit sein. Nur so kommen die Erkenntnisse auch in der Gesellschaft an. Das hat hier sehr gut funktioniert.

Die Finanzierung muss nun dauerhaft sichergestellt werden. Es gibt schließlich nach wie vor keinen einzigen Lehrstuhl für Kommunismusgeschichte oder DDR-/deutsche Teilungsgeschichte in Deutschland.

tagesschau.de: Wie erklären Sie sich das?

Kaminsky: Die DDR-Diktatur wurde jahrelang aus dem Gesamtkontext der Kommunismus- und der Geschichte Ostmitteleuropas ausgeklammert. Das zeigt schon der deutsche Begriff "SED-Diktatur". In Polen, Tschechien oder Ungarn kommt niemand auf die Idee, die kommunistische Herrschaft auf die damals herrschende Partei zu reduzieren.

Diese Dekontextualisierung war ein Problem. Und dann ist die DDR auch noch sehr früh in den 1990er-Jahren apodiktisch zu einer Fußnote der deutschen Geschichte erklärt worden. Dabei merken wir die Folgewirkung der DDR bis heute.

tagesschau.de: Das äußert sich wie?

Kaminsky: Es heißt beispielsweise oft, die hohe Arbeitslosigkeit und die Deindustrialisierung auf dem Gebiet der ehemaligen DDR waren eine Folge der deutschen Einheit. Das stimmt nicht.

Natürlich trat das erst nach 1990 zutage, aber diese für die betroffenen Menschen und Regionen furchtbaren Erfahrungen waren in erster Linie eine Folge der 40-jährigen Misswirtschaft in der DDR. Hätte die DDR noch drei Jahre länger existiert, wären die Folgen noch viel schlimmer gewesen. Ein geheimes Gutachten für das Politbüro im Herbst 1989 war da unmissverständlich: Die DDR war pleite.

tagesschau.de: Sie fordern, die Geschichte der DDR und der deutschen Teilung stärker in die Transformationszeit und den ost- und mitteleuropäischen Kontext einzuordnen. Müsste das nicht das vom Bund geplante Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation leisten?

Kaminsky: Für das Zukunftszentrum gibt es noch kein klares Profil. Ich bin skeptisch, wenn die Forschung nur an einer Einrichtung angesiedelt würde. So ein Monopol ist nie von Vorteil.

Verwundungen nicht überwunden

tagesschau.de: Zuletzt sind einige erfolgreiche und kontrovers diskutierte Bücher zur DDR und zu Ostdeutschland erschienen. Die Historikerin Katja Hoyer hat etwa die Frage aufgeworfen, ob unser Bild von der DDR-Alltagsgesellschaft zu negativ ist. Ist es das?

Kaminsky: Diese These geht davon aus, dass man das politische System vom Alltag trennen könnte. Das sehe ich überhaupt nicht. Ein Großteil der Bevölkerung hat sich in der DDR gegängelt und bevormundet gefühlt. Millionen Menschen flohen bis 1961 und ab Mitte der 1980er aus dem Land. Das Ergebnis der Volkskammerwahl 1990 zeigt, dass die Menschen keine sozialistischen Experimente mehr wollten.

Interne Analysen der SED-Führung belegen, dass die sich sehr wohl bewusst war, dass eine große Mehrheit der DDR Bevölkerung eben nicht hinter ihr stand. Deshalb gab es keine freien Wahlen, sondern massive Überwachung und Repression.

Jetzt, 35 Jahre später, ist vieles davon in Vergessenheit geraten. Man hat sich an die Freiheiten in der Demokratie gewöhnt. Aber wenn Sie die Leute fragen, ob sie in die Verhältnisse wie 1989 in der DDR zurückkehren wollen, sagen die allermeisten: "Auf keinen Fall!"

tagesschau.de: Und dennoch stieß das Buch von Katja Hoyer ebenso wie das des Literaturwissenschaftlers Dirk Oschmann auf großen Zuspruch. Oschmann schreibt, der Osten sei "eine Erfindung des Westens". Kommt das dem heutigen Empfinden vieler Ostdeutscher nicht einfach näher?

Kaminsky: Die meisten Menschen beurteilen die Vergangenheit durch die Brille der Gegenwart. In der ostdeutschen Bevölkerung gibt es ein hohes Verwundungs- und Verbitterungspotenzial über das, was nach 1990 geschehen ist. 

Es muss dieser Gesellschaft sehr zu denken geben, wenn 50 Prozent der Ostdeutschen heute noch sagen, sie fühlten sich als Bürger zweiter Klasse. In der jüngsten Umfrage, die wir als Bundesstiftung gemacht haben, sagen 74 Prozent der Ostdeutschen, dass die Leistungen der Ostdeutschen nicht ausreichend gewürdigt werden.

Auch wenn viele Menschen ihre persönlichen Wünsche, Hoffnungen und Träume im Wesentlichen erfüllt sehen, reicht die soziale und wirtschaftliche Stabilisierung offensichtlich nicht aus, um diese Verwundungen zu überwinden. Ein Bashing der Westdeutschen hilft da allerdings auch nicht weiter. Es wird auch nicht ihrer Leistung für den Vereinigungsprozess gerecht.

Das Gespräch führte Thomas Vorreyer für tagesschau.de.

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