Ein Schild mit der Aufschrift "Verweil- und Aufenthalts Verbot" hängt an einem Baum am Biergarten am Aumeister im Englischen Garten, München.

Corona-Aufarbeitung Welche Lehren zieht die Politik aus der Pandemie?

Stand: 07.04.2024 13:44 Uhr

Vor einem Jahr sind die letzten Maßnahmen im Kampf gegen die Corona-Pandemie ausgelaufen. Doch noch ringt die Politik um einen richtigen Weg zur Aufarbeitung der Maßnahmen.

Von Nadine Bader, ARD-Hauptstadtstudio

Es ist Anfang April 2023, als Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach die Corona-Pandemie offiziell für beendet erklärt. Nebenbei, am Rande einer Pressekonferenz. "Wir haben in Deutschland die Pandemie erfolgreich bewältigt und auch mit einer guten Bilanz", so Lauterbach. Kurz darauf fallen die letzten Schutzvorschriften: die Maskenpflicht für Besucher in Arztpraxen oder im Pflegeheim.

Ein Jahr später ist die Pandemie aus dem Bewusstsein vieler Menschen weitgehend verschwunden. Andere internationale Krisen beherrschen den Alltag und die Auswirkungen auf das Leben hierzulande, etwa der Krieg in der Ukraine.

Doch plötzlich ist das Corona-Thema wieder da, das irgendwie vergessen schien. Nicht die Pandemie selbst, sondern ihre Aufarbeitung ist in aller Munde, seit die sogenannten RKI-Protokolle Ende März in die Schlagzeilen geraten sind.

Bei den Protokollen handelt es sich um interne Dokumente der Krisensitzungen im Robert Koch-Institut (RKI). Die Behörde ist für die Überwachung von Infektionskrankheiten in der Bevölkerung zuständig. In der Pandemie sollte sie wissenschaftliche Erkenntnisse zusammentragen, um die Regierung zu beraten.

Die Dokumente mussten herausgegeben werden, weil das Onlinemagazin Multipolar erfolgreich auf eine Freigabe geklagt hatte. Die Protokolle sind offenbar weit weniger brisant, als zum Teil im Netz behauptet wird.

"Ergebnisoffen und vielfältig diskutiert"

Der Virologe Hendrik Streeck wurde von Kanzler Scholz in den Corona-ExpertInnenrat berufen, der die Regierung zwischen Dezember 2021 und April 2023 beraten hat. Streeck galt eher als ein Kritiker strenger Maßnahmen. Aus seiner Sicht beinhalten die RKI-Protokolle keinen Skandal, "sondern sie zeigen eigentlich sehr schön in einer chronologischen Abfolge, wie auch am RKI ergebnisoffen und vielfältig diskutiert wurde“, sagt der Virologe.

Das betrifft zum Beispiel Schulschließungen, die man am RKI zum Teil eher kritisch gesehen hat. So heißt es im Protokoll vom 4. Dezember 2020, Corona-Fälle in Schulen würden das Infektionsgeschehen nicht maßgeblich vorantreiben.

Trotzdem wurden die Schulen kurz darauf erneut geschlossen. Streeck, der bei der nächsten Bundestagswahl für die CDU kandidieren möchte, sagt, solche wissenschaftlichen Kontroversen hätte das RKI stärker öffentlich führen und moderieren sollen.

Vorwurf der politischen Einflussnahme

Dass die Politik nicht immer auf die Ratschläge des RKI gehört hat, war auch schon zu Pandemiezeiten offensichtlich. Doch jetzt kursierte der Vorwurf, die Politik habe auf die wissenschaftliche Einschätzung des Instituts Einfluss genommen. Dabei geht es um ein Protokoll vom März 2020. Damals diskutierte der Krisenstab unter anderem den Mehrbedarf an Intensiv- und Beatmungsbetten.

Das Institut plante, die Bewertung des Risikos durch Corona höher zu stufen, sobald (geschwärzter Name) ein Signal dafür gibt. Hinter der Schwärzung vermutete der Blog Multipolar, dem ein Hang zu Verschwörungstheorien nachgesagt wird, jemanden aus der damaligen Bundesregierung.

Das RKI ließ wissen, dabei handele es sich um einen RKI-Mitarbeiter. Schwärzungen von Namen seien bei der Herausgabe interner Protokolle üblich, um Mitarbeitende zu schützen.

Verhaftungs- und Vernichtungsfantasien

Minister Lauterbach hat inzwischen mehr Transparenz angekündigt. Die Protokolle sollen nach Möglichkeit weitgehend entschwärzt werden. Verschwörungsideologen und Corona-Leugnern hätten die RKI-Protokolle neuen Auftrieb gegeben, sagt Josef Holnburger. Er ist Co-Geschäftsführer bei CeMAS (Center für Monitoring, Analyse und Strategie), das Informationen zu Verschwörungsideologien und Desinformation sammelt.

In der "Querdenken-Szene" werde teilweise über Verhaftungs- und Vernichtungsfantasien gesprochen. Man habe gedacht, nun so weit zu sein, Anklage gegen die damalige Bundesregierung zu erheben.

Für Verschwörungsideologen stehe hinter dem geschwärzten Namen Angela Merkel. Es gehe bis hin zu NATO-Generälen oder Bill Gates. Die Protokolle zu entschwärzen, werde daran nichts ändern, sagt Holnburger. Dann komme der Vorwurf, die Protokolle seien gefälscht worden.

Impfpflicht kontrovers diskutiert

Menschen aus dieser Szene zu erreichen, sei schwierig. Am ehesten könnten Menschen aus dem Umfeld - Freunde, Verwandte und Arbeitskollegen - an sie herankommen, sagt Holnburger. Er verweist auf Beratungsstellen, die bei dieser Problematik helfen könnten. Wenn man die Corona-Pandemie aufarbeiten wolle, bräuchten auch solche Organisationen mehr finanzielle Unterstützung. Es gebe lange Wartezeiten, viele Anfragen nach Hilfe würden lange liegen bleiben.

Aus Sicht Holnburgers wurde während der Corona-Pandemie viel diskutiert. Zum Beispiel über eine allgemeine Impfpflicht, für die es am Ende in der Politik keine Mehrheit gab. Es sei falsch, dass nur eine Meinung zugelassen wurde, sagt der Politikwissenschaftler.

Trauer, Angst und Entbehrungen

Aber die Corona-Jahre haben Spuren in der Gesellschaft hinterlassen. Für viele war es eine Zeit geprägt von Trauer, Angst und Entbehrungen. Mit dem Ziel, Leben zu retten, hatte die Politik weitreichende Maßnahmen und Grundrechtseingriffe veranlasst.

Es geht um Besuchsverbote, einsames Sterben in Pflegeeinrichtungen und Kliniken, die Schließung von Kitas und (Hoch-)Schulen, von Gastronomie, Kulturszene und Geschäften bis hin zu Ausgangssperren. Aus Sicht der Liberalen wurde all das nicht ausreichend aufgearbeitet. Der FDP geht es darum, die Wirksamkeit und Verhältnismäßigkeit der Pandemiemaßnahmen zu bewerten.

Man wisse heute, dass einige Entscheidungen der vorherigen Bundesregierung großen sozialen und wirtschaftlichen Schaden angerichtet hätten, sagt die Parlamentarische Geschäftsführerin der FDP, Christine Aschenberg-Dugnus. Die Liberalen wollen deshalb eine Enquete-Kommission im Bundestag einsetzen.

Eine solche Kommission besteht aus Abgeordneten und Sachverständigen aus Wissenschaft und Praxis. Am Ende ihrer Arbeit legen sie dem Bundestag einen Bericht mit Empfehlungen für die Zukunft vor. Die Forderung der FDP ist nicht neu. Aber seit die RKI-Protokolle öffentlich wurden, hat die Debatte um Aufarbeitung wieder Fahrt aufgenommen. Unterstützung dafür gibt es von der Union, die zu Beginn der Pandemie Kanzlerin und Gesundheitsminister stellte.

Kommt eine parlamentarische Aufarbeitung?

Ob und wann eine solche Kommission kommt, ist offen. Gesundheitsminister Lauterbach verwies zuletzt im Interview mit dem Deutschlandfunk auf den Bundestag, der das entscheiden müsse. Er glaube aber, dass mehr Transparenz nötig sei, damit sich nicht noch mehr Verschwörungsideologien um die damalige Zeit aufbauten.

Die SPD-Fraktion weicht bei der Frage nach einer Enquete-Kommission aus. Eine Auswertung der Corona-Maßnahmen finde bereits statt. Zum Beispiel in Bezug auf die Auswirkungen für Kinder und Jugendliche, sagt die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Dagmar Schmidt. Lehren daraus seien bereits gezogen worden. Etwa mit dem Startchancen-Programm, das Schülerinnen und Schüler in Brennpunktschulen unterstützen soll.

Auch die Grünen sprechen sich für eine parlamentarische Aufarbeitung aus. Eine Enquete-Kommission sehen sie aber kritisch. Eine solche Kommission würde erst Ende des Jahres 2024 ins Laufen kommen. Dann wäre die Legislaturperiode schon fast vorbei, sagt die parlamentarische Geschäftsführerin Irene Mihalic. Einig über den richtigen Weg ist sich die Ampelkoalition also noch nicht.

Für den Virologen Streeck bleibt am Ende die Frage, wie verschiedene Pole wieder zusammengeführt werden können und die Gesellschaft Versöhnung erreichen kann. Er fordert vor allem, offen über die Pandemie zu reden.

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