Ein Fahrzeug des Internationalen Roten Kreuzes bringt Geiseln, die von den Hamas freigelassen wurden, zum Grenzübrgang Rafah
interview

IKRK im Gazastreifen "Wir sind bereit, die Geiseln zu besuchen"

Stand: 16.12.2023 09:03 Uhr

Humanitäre Hilfe im Gazastreifen wird unter extremen Bedingungen geleistet. IKRK-Sprecher Christoph Hanger schildert im Interview, womit Ärzte konfrontiert werden und was Patienten erleiden müssen. Und er nimmt zu einem Vorwurf gegen das IKRK Stellung.

ARD: Sie verstehen sich als Hüter der Genfer Konventionen, versuchen so viel humanitäre Hilfe wie möglich zu leisten, setzen sich dafür ein, dass Zivilistinnen und Zivilisten verschont werden. Wie hilft man unter Bedingungen wie gerade in Gaza?

Christoph Hanger: Die Lage im Moment ist extrem schwierig. In den Krankenhäusern gibt es nicht genügend Betten, nicht genügend Schmerzmittel, nicht genügend Personal, es riecht nach verrottendem Fleisch und, das ist jetzt wirklich extrem: Teilweise kriechen Maden aus den unbehandelten Wunden. Die Ärzte vor Ort nehmen ohne Betäubungsmittel Gliedmaßen - Hände und Oberschenkel - ab.

Chris Hanger
Zur Person
Christoph Hanger arbeitet seit rund sieben Jahren in der Medienabteilung für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK).

ARD: Wie führt man Operationen, Amputationen ohne Betäubungsmittel durch?

Hanger: Die Patienten müssen dafür festgehalten werden. Das ist eine so furchtbare Operation, dass dann viele Patienten einfach ohnmächtig werden, der Schmerz ist unvorstellbar.

Und wenn man in der Lage war, das Leben, von, sagen wir mal, diesem Kind zu retten und dieses Kind dann irgendwann aufwacht, dann muss man ihm noch beibringen, dass die ganze Familie tot ist. Das kann man sich einfach nicht vorstellen wenn man es nicht selbst erlebt hat.

"Dadurch, dass wir neutral sind, werden wir akzeptiert"

ARD: Das IKRK versteht sich als neutrale humanitäre Organisation. Bedeutet Neutralität in der Praxis, dass es egal ist, ob einem jemand von der Hamas gegenübersitzt oder ein Vertreter Israels, alle werden gleichbehandelt?

Hanger: Dadurch, dass wir neutral sind, werden wir in vielen Krisenregionen weltweit akzeptiert. Nur so können wir vor Ort helfen und werden nicht angegriffen.

Wir haben als humanitäre NGO den Auftrag, in Konfliktgebieten zu arbeiten. Das bedeutet, dass es für uns keinen Unterschied macht, mit wem wir diskutieren müssen, um Zugang zu bekommen. Unser Dialog mit den Konfliktparteien ist darauf ausgelegt, dass wir menschliches Leid lindern können.

"Die Geiseln haben ein Recht auf Besuch"

ARD: Eine Kernaufgabe ist auch, Kriegsgefangene auf beiden Seiten zu besuchen und medizinisch zu versorgen. Das hat bisher bei den Geiseln der Hamas nicht stattgefunden und sie fordern es nicht öffentlich ein. Der israelische Botschafter in Deutschland kritisiert Sie dafür, und auch die Angehörigen der Geiseln in Israel sagen, dass Sie Ihren Job ordentlich machen sollen. Haben die Kritiker recht?

Hanger: Wir arbeiten seit 160 Jahren in Konfliktgebieten. Und Kritik am IKRK ist nicht neu. Man kann die Kritik nachvollziehen, wenn man Angehörige verloren hat, wenn man nicht weiß, wo die Angehörigen sind. Dass wir teilweise verschiedene Aktivitäten nicht durchführen können, liegt nicht daran, dass wir das nicht wollen.

Wir sind bereit, die Geiseln zu besuchen. Aber das geht nur, und das möchte ich noch mal ganz stark betonen, wenn uns die Konfliktparteien lassen. Wir haben seit Tag eins der Geiselnahme klar gesagt, die Geiselnahme widerspricht dem Humanitären Völkerrecht. Das heißt, die Geiseln müssen freigelassen werden. Die jetzt noch im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln haben ein Recht auf Besuch und wir müssen in der Lage sein, Nachrichten zwischen Geiseln und deren Familien auszutauschen.

In Tel Aviv demonstrieren Israelis Anfang November dafür, dass sich Rote Kreuz stärker für die Freilassung der von den Hamas verschleppten Geiseln ein.

Anfang November demonstrierten zahlreiche Israelis in Tel Aviv dafür, dass sich das Internationale Rote Kreuz stärker für die Freilassung der Geiseln einsetzt.

ARD: Also hindert Sie die Hamas gerade daran?

Hanger: Speziell zu den Gründen, warum das nicht stattfindet im Moment, kann ich mich nicht äußern, weil das extrem sensibel ist. Klar ist aber auch, dass wir unsere Hilfe nicht aufzwingen können.

Es wäre lebensgefährlich für unsere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, aber auch für die Geiseln, wenn wir in einen Bereich gehen würden, wo wir theoretisch vermuten, dass eine Geisel festgehalten wird, um diese zu besuchen. Wir haben keine Waffen, wir haben kein Druckmittel. Es geht nur, wenn eine Vereinbarung zustande kommt.

Das Gespräch führte Ann-Kathrin Wetter und Anna Farwick, BR. Für die schriftliche Version wurde das Interview leicht angepasst.

Mehr zum Thema hören Sie auch im Podcast "Lost in Nahost" - zu finden in der ARD-Audiothek.

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