Wladimir Putin
faktenfinder

Rede von Putin Ein Feuerwerk der falschen Behauptungen

Stand: 21.02.2023 15:10 Uhr

In seiner Rede hat Russlands Präsident Putin selbst das Thema LGBTQI-Rechte angesprochen, um damit gegen den Westen zu wettern. Auch andere längst widerlegte Narrative bediente er.

Von Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

Ob die angebliche "Entnazifizierung" der Ukraine oder die vermeintliche Schuld des Westens am Krieg: Russlands Präsident Wladimir Putin hat in seiner mehr als einstündigen Rede zur Lage der Nation viele der russischen Verschwörungsmythen hervorgebracht, um sein Vorgehen zu legitimieren. Dabei sind die meisten seiner Anschuldigungen bereits lange widerlegt.

"Generell sah es so aus, dass Putin die Russinnen und Russen auf einen langen Krieg einstellt", sagt Julia Smirnova, Senior Researcherin am Institute for Strategic Dialogue Germany (ISD). "Und dafür wiederholte er auch zahlreiche falsche Behauptungen, die sowohl die russische Propaganda als auch er selbst schon früher verwendet haben, um den Angriffskrieg zu rechtfertigen."

Falsche Behauptung vom Völkermord

So wiederholte Putin erneut das Narrativ des angeblichen Neonaziregimes in der Ukraine. Dabei erreichte bei der letzten Parlamentswahl in der Ukraine nicht eine rechtsextreme Partei die Fünf-Prozent-Marke. Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, der selbst Jude ist und dessen Angehörige im Holocaust ermordet wurden, hatte darauf bereits kurz nach Kriegsbeginn gesagt:

Man sagt Ihnen, wir [Ukrainer] seien Nazis. Aber kann ein Volk, das mehr als acht Millionen Menschen im Kampf gegen den Nationalsozialismus verloren hat, den Nationalsozialismus unterstützen? Wie kann ich ein Nazi sein? Erklären Sie das mal meinem Großvater, der den ganzen Krieg in der Infanterie der sowjetischen Armee mitgekämpft hat und als Oberst in einer unabhängigen Ukraine gestorben ist.

Hinzu kommt, dass Russland selbst Rechtsextreme in den eigenen Reihen duldet und enge Verbindungen zu rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien in Europa unterhält. Putin zog dennoch viele Parallelen zum Zweiten Weltkrieg und verglich den Krieg gegen die Ukraine mit dem Kampf gegen den Faschismus. "Das ist eine Strategie, die von der russischen Propaganda schon seit Jahren wiederholt wird", sagt Smirnova. So habe Putin eine Verbindung hergestellt zwischen den Frauen und Männern, die gerade in der Ukraine kämpfen, und den Frauen und Männern, die im Zweiten Weltkrieg gegen Nazideutschland gekämpft haben.

Auch die falsche Behauptung, in der Ostukraine habe es einen Völkermord an russischen Menschen gegeben, wiederholte Putin. Dabei gibt es darauf nach Angaben der OSZE und der Vereinten Nationen (UN) weiterhin keinerlei Hinweise. Zudem hat Russland den Krieg in der Ostukraine 2014 selbst mit entfacht. Bei dem Konflikt im Osten der Ukraine gab es nach UN-Angaben auf beiden Seiten Menschenrechtsverletzungen wie Folter und Vergewaltigungen von Gefangenen. Auch sei der im Rahmen des Minsk-II-Abkommens vereinbarte Waffenstillstand von beiden Seiten wiederholt gebrochen worden. Laut UN starben in dem Konflikt bis Anfang 2020 bis zu 13.200 Menschen, darunter 3350 Zivilisten.

Der Westen als Feindbild

Obwohl Russland den groß angelegten Angriff auf die Ukraine vor knapp einem Jahr begann, machte Putin in seiner Rede erneut den Westen für die Eskalation verantwortlich. "Putin stellte den Angriffskrieg als Verteidigungskrieg da", sagt Smirnova. Dabei habe er das falsche Bedrohungsszenario wiederholt, dass die Ukraine kurz vor einem Angriff gestanden hätte. Vor Beginn der russischen Invasion hatte es mutmaßlich vom russischen Geheimdienst FSB fingierte Angriffe auf Russland gegeben. "Putin hat fälschlicherweise behauptet, dass die Ukraine mithilfe des Westens einen Angriff auf die Ostukraine vorbereitet habe."

Den Westen als Feindbild haben die russischen Staatsmedien laut Smirnova jahrelang konsequent aufgebaut und trifft daher auf fruchtbaren Boden in der Bevölkerung: "Es wurde immer wieder behauptet, dass der Westen daran interessiert sei, Russland zu schaden, Russland zu erniedrigen, Russland wirtschaftlich zu schwächen."

Dabei sprach Putin unter anderem erneut von den Biolaboren in der Ukraine, die jedoch lediglich der Erforschung von Krankheitserregern dienen und nicht, um biologische Waffen zu entwickeln. Zudem wiederholte er das Narrativ einer angeblichen Bedrohungslage für Russland - dabei umfassen von den insgesamt etwa 20.000 Kilometer langen Landgrenzen Russlands nur knapp 1200 Kilometer NATO-Mitgliedsländer.

Putin nennt Ukraine "unsere historischen Gebiete"

Putin sprach der Ukraine zudem indirekt ab, eine eigene Nation zu sein. Bereits im 19. Jahrhundert hätte der Westen versucht, die "historischen Gebiete, die man heute Ukraine nennt, Russland wegzunehmen". Dass er wiederholt von "unseren historischen Gebieten" spricht, wenn es um die Ukraine geht, zeigt nach Ansicht von Smirnova, dass die Ukraine in Putins Augen zu Russland gehöre.

Dabei gab es ukrainische Unabhängigkeitsbestrebungen bereits zu Zeiten der Kosaken im 17. und 18. Jahrhundert. Lange Zeit gelang es jedoch nicht, einen eigenen Staat zu gründen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 erlangte die Ukraine dann in der heutigen Form die Unabhängigkeit, deren territoriale Souveränitat Russland erst durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim, später durch den völkerrechtswidrigen, großangelegten Angriff und die weiteren, ebenfalls völkerrechtswidrigen Annexionen im Osten der Ukraine verletzte.

Diese Scheinreferenden zog Putin in seiner Rede erneut heran, um den Angriffskrieg zu legitimieren. Die Menschen in der Ostukraine hätten "ihr Schicksal bestimmt, zusammen mit ihrer Heimat [Russland] zu sein". Dabei waren die Scheinreferenden alles andere als freie Wahlen. Zudem verstießen die Scheinreferenden gegen internationales Recht. Ihre Ergebnisse sind aus völkerrechtlicher Sicht ohnehin nichtig.

"Pädophilie wird zu einer Norm erklärt"

Putin nutzte die Rede auch, um die westlichen Werte anzugreifen - vor allem mit Blick auf LGBTQI-Rechte. So warf er dem Westen vor, die junge Generation in Russland manipulieren zu wollen. Im Westen werde "Pädophilie zu einer Norm erklärt". Geistliche würden genötigt, gleichgeschlechtliche Ehen zu segnen. Ohnehin würden im Westen die "heiligen Schriften" der Kirche infrage gestellt.

Ein typisches Narrativ, sagt Smirnova: "Der Westen wird nicht nur als Feind Russlands dargestellt, sondern als eine perverse Welt. Die LGBTQI-Rechte spielen eine zentrale Rolle in der antiwestlichen Propaganda in Russland. Dabei stellt sich Putin selbst als Verteidiger der traditionellen Werte der Kirche dar." Seit Jahren werden die Rechte von queeren Menschen in Russland eingeschränkt, bei Verstößen drohen hohe Geldstrafen.

Putin gibt sich dabei nicht nur als Beschützer der Kirche, sondern auch als Beschützer der Kinder, wie er in der Rede betont. Und das nicht ohne Grund, meint Smirnova. Denn er befürchte, die jungen Generationen könnten vermeintliche Opfer des westlichen "Informationskriegs" werden - schließlich sei es bei ihnen schwieriger, den Nachrichtenkonsum zu kontrollieren.

"Umfragen, die nach dem Beginn des Angriffskrieges durchgeführt wurden, haben gezeigt, dass die Unterstützung für den Krieg bei der älteren Generation viel größer ist als bei den jüngeren Menschen", sagt Smirnova. "Das heißt, zum einen macht sich der Kreml tatsächlich Sorgen und macht sich Gedanken, wie er mit der Propaganda auch die jüngere Generation abholt. Und zum anderen nutzt Putin dieses Motiv des Kinderschutzes, um die eigene Politik als selbstlos darzustellen."

Verzerrtes Bild zu Auswirkung der Sanktionen

Einen großen Anteil seiner Rede widmete Putin den westlichen Sanktionen gegen Russland. Diese hätten "nichts erreicht und werden nichts erreichen". Der Westen würde sich damit selbst bestrafen. Putin zeichnete anschließend ein Bild vom Westen, das von prorussischen Propagandisten bereits seit längerer Zeit verbreitet wird: Dass die Sanktionen dazu führten, dass die Menschen in Deutschland frieren, weil die Energiepreise so hoch seien. In dem Zusammenhang werden auch immer wieder die Proteste gegen die Russlandpolitik der Bundesregierung deutlich übertrieben dargestellt.

Smirnova spricht von einer "verzerrten Darstellung der Realität". "Dieser Teil war vor allem an das Publikum in Russland gerichtet", sagt sie. Putin habe das Volk auf einen langen Krieg einstellen wollen. "Er stellte seine bisherige Wirtschafts- und Außenpolitik als Erfolg da. Er hat behauptet, dass der Westen mit den Sanktionen nicht die Ziele erreicht habe. Und er hat versucht, den Menschen den Eindruck zu geben, dass in Russland eigentlich wirtschaftlich alles in Ordnung sei, dass der Staat sich um sie kümmere."

Zwar ist die russische Wirtschaft im Jahr 2022 tatsächlich weniger stark eingebrochen als zunächst erwartet. Allerdings gehen Experten davon aus, dass sich die Auswirkungen der Sanktionen vor allem langfristig zeigen werden. Janis Kluge, Russlandexperte von der Stiftung Wissenschaft & Politik (SWP), schreibt dazu in einem Aufsatz:

Die Sanktionen können also nicht verhindern, dass Russland seinen Krieg gegen die Ukraine fortsetzt, erschweren aber die Kriegsführung. Noch trägt das stabile makroökonomische Gerüst, das Putins Technokraten in den vergangenen zwanzig Jahren errichtet haben. Doch erste Risse sind erkennbar. Mit jedem Kriegsjahr wird es der russischen Führung schwerer fallen, die notwendigen Ressourcen für weitere Angriffe aufzutreiben. Langfristig ist das Regime gezwungen, seine Kriegsausgaben zu verringern, damit die wirtschaftlichen Probleme nicht in Instabilität münden.