Mittelstreckenrakete 9M739

Streit um Abrüstung Wer verletzt den INF-Vertrag?

Stand: 01.02.2019 04:51 Uhr

Die USA und Russland werfen sich gegenseitig vor, gegen den INF-Vertrag zu verstoßen. Und dieser Streit schwelt schon seit Jahren. Kann man herausfinden, wer von beiden Recht hat?

Von Mitarbeit: Katja Kusnezowa und Darja Schdanowa

Von Demian von Osten, ARD-Studio Moskau

Mehr als 30 Jahre ist der INF-Vertrag alt. Er verbietet den USA und Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion, landgestützte atomare Mittelstreckenraketen mit Reichweiten zwischen 500 und 5500 Kilometern zu produzieren, zu besitzen oder zu testen. Wohl am 2. Februar 2019 wollen die USA aus dem Vertrag aussteigen. Als Grund geben sie an, dass Russland den Vertrag verletze.

Vorwürfe der USA

Dass Russland gegen den Vertrag verstoße, haben die USA erstmals 2013 gesagt. Allerdings waren die Vorwürfe damals noch eher allgemein: Russland verletze die Verpflichtungen aus dem INF-Vertrag, hieß es etwa in einem Bericht des US-Außenministeriums zur Rüstungskontrolle aus dem Juli 2014.

Konkreter sind die Informationen in einem 2015 erschienen Bericht. Russland habe ein neues Marschflugkörper-System entwickelt, das den INF-Vertrag verletzen würde.

Bei einer Rede am Wilson Center in Washington D.C. sagte Christopher Ford, Mitglied des Nationalen Sicherheitsrats der USA, im November 2017, dass es dabei um die Rakete 9M729 gehe. Russland habe außerdem mehrere Einheiten mit dieser Rakete ausgestattet.

Geschickte Kombination von zwei Tests

US-Geheimdienstdirektor Dan Coats schreibt, dass Russland die Rakete so getestet habe, dass die genauen Aktivitäten und die Leistungsfähigkeit der Rakete verschleiert worden sei.

Russland habe die Rakete zunächst mit einer Reichweite von "weit über" 500 Kilometern von einer festen Abschussrampe aus getestet. Das wäre laut Vertrag zulässig, wenn die Rakete als See- oder Luftabwehrrakete eingesetzt werden sollte.

Coats ergänzte aber, dass Russland dieselbe Rakete dann noch mit einer Reichweite von unter 500 Kilometern von einer mobilen Abschussrampe aus getestet habe. So habe Russland laut US-Geheimdienstdirektor Coats "durch die Kombination beider Tests miteinander" eine Rakete mit einer Reichweite von über 500 Kilometern entwickelt, die von einer mobilen Abschussrampe aus abgefeuert werden könne. Damit verletzte sie den Vertrag.

Offizier vor einem Behältnis des neuen russischen Marschflugkörpers vom Typ 9M729

Behältnis des neuen Marschflugkörpers vom Typ 9M729. Im Hintergrund die mobile Startvorrichtung.

Was sagt Russland zu den Vorwürfen?

Russische Militärs stellten im Januar 2019 Journalisten und verschiedenen Militärattachés anderer Staaten das Raketensystem 9M729 vor. In einer Präsentation hieß es, diese Rakete sei eine Weiterentwicklung des Vorgängermodells 9M728. Die neue Rakete habe sogar ein etwas kürzeres Behältnis und daher eine um zehn Kilometer kürzere Reichweite als die alte. Beide Reichweiten lägen unterhalb der erlaubten 500 Kilometer, so die russischen Militärs. Sie argumentieren deshalb, die Rakete verletze den INF-Vertrag nicht. Die Behältnisse der Rakete wurde auch vor den Journalisten ausgestellt, allerdings lassen sich aus der Hülle der Rakete kaum Rückschlüsse auf die Reichweite erzielen.

Russlands Gegenvorwurf

Umgekehrt erhebt Russland den Vorwurf, das US-Raketenabwehrsystem in Rumänien verstoße gegen den Vertrag. 2011 hatten die USA und Rumänien vereinbart, dass ein Teil eines neuen Raketenabfangsystems auf der Deveselu Luftwaffenbasis in Rumänien stationiert wird. Im Mai 2016 wurde es eröffnet.

Damals sagte der russische Vertreter bei der NATO, Alexander Gruschko, durch die Stationierung von Mk-41 Abschussrampen in Rumänien würde die USA den INF-Vertrag verletzen. Diese Abschussrampen gibt es dort tatsächlich.

Russlands Präsident Wladimir Putin glaubt, dass diese Abschussrampen jederzeit atomar bestückte US-Marschflugkörper abfeuern können - die dann auch gegen Russland eingesetzt werden könnten. "Das sind universelle Abschussrampen. Sie können auch für den Abschuss von seegestützten Marschflugkörpern mit einer Reichweite von 2500 Kilometern genutzt werden. In dem Fall wären sie keine seegestützten Raketen mehr", sagte Putin bei einem Treffen des Verteidigungsministeriums im Dezember 2017.

USA weisen Vorwürfe zurück

Nach Darstellung der USA wurden diese Raketenabschussrampen nie für so etwas getestet und grundsätzlich nicht dafür gemacht, nukleare Mittelstreckenraketen abzufeuern. Dan Smith vom Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI sagt: "Die USA erklären weiter, dass diesen Raketenabschussrampen die Software und ein Teil der Hardware fehlt, die nötig wäre; außerdem andere Teile, die nötig wären, um eine Atomrakete abzuschießen."

Hinzu kommt, dass die Raketenbasis in Rumänien sich angeblich gegen eine Bedrohung durch Raketen unter anderem aus dem Iran richten soll, nicht aber gegen Russland. Doch Russland glaubt das nicht.

Wer hat nun Recht?

Nach Ansicht von Smith haben beide Seiten "eine gewisse Form von Glaubwürdigkeit". Man befinde sich in einem Stadium von Vorwurf und Gegenvorwurf.

Aus der Ferne können die Forscher kaum klären, wer Recht hat. Das lässt sich nur mit Inspektionen der Raketen ändern.

Es gibt jedoch keine gegenseitige Kontrollen mehr. Viele Jahre lang waren russische Inspektoren in Magna in Utah stationiert, um sicherzustellen, dass keine neuen verbotenen Raketen gebaut werden. Umgekehrt gab es ein Team aus US-Inspektoren im russischen Wotkinsk. Doch das ist vorbei. Der INF-Vertrag sieht aber in Artikel XI, Absatz 5 vor, dass es gegenseitige Inspektionen nur 13 Jahre lang nach Inkrafttreten des Vertrags gibt. Sie endeten damit am 31. Mai 2001.

Keiner will den INF-Vertrag retten

Laut Smith gibt es aber eigentlich weiterhin einen Weg, diese Probleme innerhalb des INF-Vertrags zu lösen: "Es gibt die besondere Verifizierungskommission, in der beide Seiten zusammensitzen sollten und diese Bedenken durchdiskutieren sollten." Doch es konnte keine Einigung erzielt werden. 

Das spricht nicht dafür, dass beide Seiten den INF-Vertrag wirklich retten wollen.

So sieht das auch der Direktor des Moskauer Carnegie-Zentrums, Dmitrij Trenin, im Interview mit dem ARD-Studio Moskau: "Die amerikanische Seite meint, dass die Verträge zwischen Moskau und Washington auf Zeit ausgelegt waren." Als Grund sieht er, dass die bipolare Welt, in der sich die Sowjetunion und die USA gegenüberstanden, nicht mehr existiere. Es gebe für die USA andere Probleme, meint Trenin. Deshalb hätten die USA "keinen Grund, ihre militärische Möglichkeiten durch Verhandlungen mit anderen Ländern einzuschränken".

Was kommt nach dem Vertragsende?

Nach dem Ende des Vertrags droht ein neues Wettrüsten. In einer Presseerklärung im Dezember 2018 sagte Präsident Putin, dass Russland mit dem Ausstieg aus dem Vertrag nicht einverstanden sei. Falls dies aber passieren sollte, werde man entsprechend reagieren. Russland werde auch bisher verbotene Raketen entwickeln, wenn die USA das ebenfalls täten.

Waleri Gerassimow, der Stabschef des russischen Militärs, drohte damit, dass US-Raketenstandorte in befreundeten Staaten "Ziele für den späteren militärischen Austausch" werden könnten. Sprich: Solche Raketenstandorte könnten angegriffen werden.