Frauen sitzen vor einem Wahlplakat von Narendra Modi.
Kontext

Desinformation in Indien "Herr Modi" und seine Familie

Stand: 05.05.2024 05:30 Uhr

Im Juni könnte Indiens Premier Modi zum dritten Mal wiedergewählt werden. Das Meinungsbild im Land ist jedoch von Desinformation und einseitiger Berichterstattung geprägt. Daran trägt Modi eine Mitschuld.

Von Ole-Jonathan Gömmel, NDR

Am 19. April haben in Indien die größten Wahlen der Menschheitsgeschichte begonnen. Rund 970 Millionen Inder und Inderinnen - also etwa zwölf Prozent der Weltbevölkerung - können dabei ihr Parlament wählen. Die Menschen aus den verschiedenen Territorien und Bundestaaten stimmen nacheinander bis zum 1. Juni an mehr als eine Million elektronischen Wahlmaschinen ab. Drei Tage später sollen die Ergebnisse verkündet werden.

Favorit der Wahl ist der amtierende Premierminister Narendra Modi. Er und seine Partei BJP genießen großen Rückhalt in weiten Teilen der mehrheitlich hinduistischen Bevölkerung. Sein Ziel: eine dritte Amtszeit und die Zweidrittelmehrheit im Unterhaus Lok Sabha, die ihm Handlungsfreiheit für Verfassungsreformen und Gesetzesänderungen gewähren würde.

"Mit Änderungen im Zivilrecht könnte Modi die Rechte von religiösen Minderheiten beschneiden", sagt Christian Wagner von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Die Hindutva-Ideologie des Premiers, die eine autoritäre und nationalistische Ausrichtung auf einen politisch-kulturell verstandenen Hinduismus vorsieht, treffe vor allem die rund 200 Millionen Muslime im Land.

Hass gegen Muslime wird geschürt

Die Wiederwahl Modis scheint dieser Tage reine Formsache zu sein. Die Opposition konnte sich nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen, kritische Stimmen aus Medien und Bevölkerung sind nur schwer zu finden. Ein Grund dafür sind BJP-nahe Medienunternehmen. "In den Modi-Jahren seit 2014 haben sich viele traditionelle TV- und Printmedien auf Regierungsseite gestellt", sagt Wagner. Gibt Modi eines seiner seltenen Interviews, so bestehen diese meist aus langen Monologen ohne Rückfragen.

Ein weiterer Grund ist ein kaum zu regulierendes Netzwerk an Online-Desinformationsverbreitern. Dazu existiert laut einer Washington-Post-Recherche ein Netzwerk von mehr als 150.000 Social-Media-Arbeitern, die für die sogenannte "BJP-IT-Cell" Social-Media-Kampagnen erstellen. Online werde dabei Angst vor und Hass gegen Muslime geschürt, der offline Konsequenzen habe. So sei es durch Desinformationen bereits zu gewaltsamen Auseinandersetzungen von Hindus und Muslimen und Lynchmorden gekommen.

Laut dem Global Risks Report 2024, herausgegeben vom World Economic Forum, ist Indien das Land, in dem das Risiko von Des- und Fehlinformation als weltweit am höchsten eingestuft wird. Dies sei für die Bevölkerung eine größere Bedrohung als etwa Infektionskrankheiten, illegale Wirtschaftsaktivitäten oder finanzielle Ungleichheit. Das EU Disinfo Lab veröffentlichte zudem 2019 eine Recherche, in der mehr als 750 gefälschte Medien, die 119 Länder abdeckten und auf über 550 registrierten Web-Domains Unwahrheiten verbreiteten, indischer Herkunft zugeschrieben werden konnten.

Geringe Medienkompetenz

Joyojeet Pal, Professor für Information an der University of Michigan, hat sich auf die Nutzung von Social Media und Desinformation von Politikern in Indien spezialisiert. Er sieht in der vermehrten Internetnutzung von Indern mit geringer Medienkompetenz einen Grund für die Anfälligkeit für Desinformation: "Die Preise für einen Internetzugang sind im letzten Jahrzehnt drastisch gesunken. Infolgedessen hat sich das Angebot an multimedialen Inhalten vervielfacht. Menschen haben begonnen, nicht-formale Quellen zu konsumieren, für die es nur sehr wenige Qualitätskontrollen gibt."

Desinformationen würden in Indien auf unterschiedliche Weise genutzt werden. "Meist rücken sie eine Partei oder eine Persönlichkeit in ein positives Licht, indem Leistungen hervorgehoben werden, die nicht der Wahrheit entsprechen", sagt Pal. Andersherum würde es genauso funktionieren: Äußerungen von Politikern würden selektiv bearbeitet, um sie in ein negatives Licht zu rücken. Das Problem sind laut Pal aber nicht nur Fake News per se, sondern auch Inhalte, die Anspielungen enthalten, um Menschen in wichtigen Fragen zu polarisieren.

"Herr Modi" soll Krieg in Ukraine gestoppt haben

Mit welchen Handlungsmustern die BJP, ihre Sympathisanten und die IT Cell online bestimmte Narrative in die Welt setzten, fördern und aufgreifen, lässt sich am Beispiel eines Videos erahnen, das im März auf Modis offiziellem YouTube-Channel mit 23 Millionen Followern hochgeladen wurde.

In der einminütigen bollywoodesquen Hochglanz-Inszenierung wird daran erinnert, dass "Modi ji" ("Herr Modi") einen Krieg gestoppt habe, um indische Studierende die sichere Rückkehr nach Hause zu ermöglichen - eine Behauptung, die erstmals einige Wochen nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine in den sozialen Netzwerken kursierte.

Nachrichtensprecher moditreuer Medien reproduzierten damals die Aussage, ebenso reichweitenstarke Influencer in den sozialen Medien und der offizielle X-Account der BJP. Ravi Shankar Prasad, ein populärer Parteifreund Modis, sagte, dass Modi den Krieg für drei Stunden unterbrochen habe. Innenminister Amit Shah sprach sogar von einer dreitägigen Waffenruhe.

Um die Wähler an Modis "Einfluss" auf die Weltpolitik zu erinnern, griff Verteidigungsminister Rajnath Singh die Geschichte im Wahljahr nun wieder auf. Er war sich sicher, dass der Krieg dank Modi für vier bis fünf Stunden pausierte. Beweise, dass Indiens Premier kriegerische Handlungen 2022 tatsächlich stoppte, gibt es keine. Ein Sprecher des indischen Außenministeriums hat die Behauptung sogar zurückgewiesen.

Für viele Inder scheint dies jedoch unwichtig. 2018 kam eine Studie der BBC zu dem Ergebnis, dass Fakten für einige in Indien weniger wichtig waren als der emotionale Wunsch, die nationale (Hindu-)Identität zu stärken. Schon damals habe der Anstieg von nationalistischen Tendenzen normale Bürger dazu getrieben, Desinformationen zu verbreiten. Zudem gab es Überschneidungen bei ihren Quellen in den sozialen Medien und Unterstützernetzwerken Modis.

"Sehr gut organisierte Social-Media-Strategie"

"Die BJP verfügt über eine sehr gut organisierte und kohärente Social-Media-Strategie, die von den höchsten Führungspersönlichkeiten bis hin zu neuen Parteimitgliedern reicht", erklärt Pal. Problematische Inhalte würden meist von kleineren und radikaleren Kanälen verbreitet.

Einer, der zum Netzwerk Modis Multiplikatoren gehört, ist Mahesh Vikram Hegde. Auf X folgen ihm fast 200.000 Menschen, darunter Modi höchstpersönlich. Hinter seinem Nutzernamen hat er "Modi Ka Parivar" stehen, was so viel bedeutet wie "Modis Familie". 2018 wurde er als Betreiber einer Fake-News-Seite auf Facebook im von der Congress Party geführten Staat Karnataka festgenommen. Diverse BJP-Politiker setzten sich damals für seine Freilassung ein.

Heute bezeichnet er in seinen Posts Oppositionelle als Terroristen, dazu teilt er Beiträge, die behaupten, dass "Islamisten aus Bangladesch oder der Rohingya eine Gefahr für Hindu-Mädchen in Mumbai darstellen". Er ist kein Einzelfall.

Auch Opposition nutzt Desinformationskampagnen

Desinformationskampagnen sind in Indien jedoch nicht nur Mittel der BJP. Auch Oppositionsparteien nutzen sie. "Die meisten Parteien haben ähnliche Strategien, weil Social-Media-Fachleute von einer Partei zur anderen wechseln", erklärt Pal. Viele von ihnen würden auch mit ausländischen Parteien zusammenarbeiten. Was in Indien passiere, werde also auch anderswo in der Welt auf organisierte Weise geschehen.

Wird Modi wiedergewählt, wäre er der erste Regierungschef seit Indiens erstem Ministerpräsidenten Jawaharlal Nehru, dem dies dreimal hintereinander gelänge. Nehru galt als Verfechter der Säkularität, wollte ein Indien für alle Religionsgemeinschaften.

Mit Modi rückt diese Idee immer weiter in den Hintergrund. Aktuell gibt es noch einige politische Kommentatoren auf Youtube und diverse Online-Medien, die sich mit Fact-Checking gegen Desinformation stellen. Doch auch sie könnten bald weichen. "Die Regierung versucht mehr Social-Media-Inhalte zu kontrollieren und die Verbreitung von Information zu verbieten, die sie als falsch oder irreführend betrachtet", sagt Wagner.

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