Ein Warnschild mit Totenkopf steht auf einer Wiese in der Nähe der Frontlinie.
faktenfinder

Bartsch-Äußerung zur Ukraine Wo verläuft die Grenze zu Russland?

Stand: 01.06.2021 15:46 Uhr

Linksfraktionschef Bartsch hat Grünen-Politiker Habeck scharf kritisiert. Habeck habe sich mit Stahlhelm nahe der russischen Grenze ablichten lassen, so Bartsch. Doch welche Linie meint Bartsch?

Von Von Patrick Gensing, Redaktion ARD-faktenfinder

Die Äußerungen des Grünen-Co-Vorsitzenden Robert Habeck zu möglichen Waffenlieferungen an die Ukraine haben in den vergangenen Tagen für viele Diskussion gesorgt. Habeck war nach einem Besuch unter anderem an der Frontlinie in der Ukraine für die Lieferung von "Defensivwaffen" an das Land eingetreten. Nach reichlich Kritik präzisierte er die Äußerung und nannte "Nachtsichtgeräte, Aufklärungsgeräte, Kampfmittelbeseitigung, Medevacs (Flug- und Fahrzeuge zur medizinischen Evakuierung)" als Beispiele für seine Forderung. Dabei handelt es sich aber nicht um Waffen. Zudem unterscheidet die deutsche Rüstungskontrolle nicht zwischen Offensiv- und Defensivwaffen.

Dietmar Bartsch von der Linksfraktion legte in dem Streit nun noch einmal nach und warf Habeck auf Twitter vor, sich "mit Stahlhelm in der Nähe der russischen Grenze ablichten zu lassen". Dies sei "angesichts unserer Geschichte unangemessen".

Besuch im zerstörten Ort

Das betreffende Foto zeigt Habeck am 25. Mai in dem Ort Schyrokyne in der Ukraine. Habeck hockt dabei auf dem Boden und betrachtet Munitionsreste in dem zerstörten Dorf, das seit 2015 verlassen ist. Schyrokyne liegt in der Nähe von Mariupol und nur wenige hundert Meter entfernt von der sogenannten Kontakt- oder Frontlinie zu den Gebieten, die von pro-russischen Truppen kontrolliert werden.

Schutzkleidung vorgeschrieben

Die Schutzkleidung, die Habeck trägt, war vom Militär vorgeschrieben, erklärten die Grünen auf Anfrage, wegen der Gefahrenlage in der Region. Es habe sich auch nicht um einen "Stahlhelm" gehandelt, sondern um einen Schutzhelm aus Kevlar.

Diese Angabe bestätigt ARD-Korrespondent Jo Angerer, der Mitte Mai in der Ukraine war. Er berichtete über den ehemaligen Urlaubsort am Schwarzen Meer:

Schyrokyne liegt in der Region Donezk, nur wenige hundert Meter von der Frontlinie entfernt. Dort kämpfen pro-russische Separatisten, mehr oder minder offen von Russland unterstützt, gegen die ukrainische Armee. Es ist ein Krieg, der im Westen weitgehend vergessen ist. Seit 2014 wurden in den Regionen Donezk und Luhansk mehr als 13.000 Menschen getötet. Völkerrechtlich gehören beide Regionen zur Ukraine, die Separatisten wollen den Anschluss an Russland. Jeden Tag wird geschossen, Frieden ist nicht in Sicht.

In Schyrokyne lebten einst 1500 Menschen, und sie lebten gut, von der Landwirtschaft und vom Tourismus. Es gab eine Schule, vier Lebensmittelgeschäfte, einen Möbelladen und sogar eine Brauerei. Bereits zu Sowjetzeiten konnte man hier in einem Feriencamp Urlaub machen. Später vermieteten die Einwohner Zimmer an die Touristen. Und die kamen gerne. Aus der Ukraine, aber auch aus Russland.

In den Kämpfen 2014 bis 2016 wurde das Dorf zu einem Großteil zerstört. Die wenigen Häuser, die noch stehen, sind unbewohnbar. Die Menschen flohen, an Wiederaufbau ist nicht zu denken. Das einstmals blühende Schyrokyne ist zum Geisterdorf geworden. Besuchen darf man es nur mit Genehmigung und in Begleitung der ukrainischen Armee. Schutzweste und Helm sind Pflicht.

Kontaktlinie oder Grenze gemeint?

Von welchem Grenzverlauf spricht Bartsch aber, wenn er Habeck vorwirft, in der Nähe von Russland mit Stahlhelm aufzutreten? Auf Twitter interpretieren viele Nutzerinnen und Nutzer die Äußerung so, dass Bartsch die Front- bzw. Kontaktlinie innerhalb der Ukraine meint - und somit quasi die Teilung der Ukraine anerkenne. Die tatsächliche Grenze zwischen der Ukraine zu Russland liegt fast 50 Kilometer von Schyrokyne entfernt - die Separatistengebiete hingegen sind in unmittelbarer Nähe.

Auf Anfrage wies Bartsch die Kritik an seinem Tweet zurück und wiederholte seine Kritik an Habecks Auftreten: Er beziehe sich "selbstverständlich auf die russisch-ukrainische Grenze, die von Schyrokyne - dem Ort des Fotos - 32 Kilometer Luftlinie entfernt liegt." Bartsch weiter:

Das ist schlicht Fakt. Anderes zu behaupten, mir andere Grenzverläufe zu unterstellen, ist böswillig. Sich dort mit Gefechtshelm ablichten zu lassen, ist fragwürdige Symbolpolitik und einmalig für einen deutschen Parteivorsitzenden. Einen Zusammenhang vom Stahlhelm zur Wehrmacht herzustellen, ist gänzlich absurd. Auch in der Bundeswehr war der Gefechtshelm über Jahrzehnte aus Stahl. Bis heute ist der Begriff umgangssprachlich Synonym für den Gefechtshelm von Soldaten.*

Der Grünen-Sprecher für Osteruropapolitik, Manuel Sarrazin, teilte auf Anfrage zu der Angelegenheit mit:

Wie Herr Bartsch wissen könnte, befindet sich die ukrainisch-russische Grenze entgegen der Vereinbarungen aus dem Minsker-Abkommen noch immer nicht unter ukrainischer Kontrolle. Gerade vor dem Hintergrund des Leids der Bürgerinnen und Bürger aus Mariupol und der Region während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg, ist die Aussage von Herr Bartsch historisch absurd.

Der Streit zeigt beispielhaft die großen Gegensätze in der Außenpolitik zwischen Grünen und Linkspartei, die immer wieder über ihren Kurs in der Russland-Politik streitet. So beispielsweise, als es um Sanktionen im Fall Nawalny ging. Dabei hatte Bartsch die "selten harte Reaktion der Bundesregierung" allerdings als angemessen bezeichnet, während Teile seiner Partei die Maßnahmen äußerst kritisch sahen.

Angespannte Lage

Die Lage in der Region ist bis heute extrem angespannt: UN-Experten kritisierten, dass die von Russland unterstützen Separatisten in der Ukraine junge Männer in ihre Streitkräfte einberiefen. Nach internationalem Recht dürfen Bürger nicht dazu gezwungen werden, gegen ihren eigenen Staat zu kämpfen, hieß es zur Erklärung. Sowohl die Donezker als auch die Luhansker Aufständischen hatten im März und April erstmals jeweils rund 200 Rekruten einberufen. Nach Angaben der Seperatisten erfolgte dies auf freiwilliger Basis.

Im Frühjahr hatten eine erhöhte Zahl von Verstößen gegen den vereinbarten Waffenstillstand und massive Truppenkonzentrationen in der Ostukraine und auf russischem Gebiet zu Sorgen vor einer neuen Eskalation des Konflikts geführt. Russland hatte Tausende Soldaten in seiner westlichen Grenzregion zusammengezogen; der Aufmarsch löste Sorgen aus, eine Invasion ähnlich wie bei der Annexion der Krim im Jahr 2014 könnte bevorstehen. Fachleute meinten, Russland habe dadurch die eigene Gefechtsbereitschaft sowie die Reaktionen der EU und der USA testen können.

*Anmerkung: Die Stellungnahme von Herrn Bartsch wurde ergänzt.