Analyse zum AfD-Gutachten Schutz für Menschenwürde und Demokratie

Stand: 21.01.2019 17:04 Uhr

AfD, Junge Alternative und "Der Flügel" stehen im Visier des Verfassungsschutzes. Der Nachrichtendienst betont in einem Gutachten mögliche Gefahren für Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaat.

Von Patrick Gensing, ARD-faktenfinder, und Reiko Pinkert, NDR

Nach der Einstufung der AfD als Prüffall berät Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang mit den Ländern das weitere Vorgehen. In der vergangenen Woche hatte der Verfassungsschutz verkündet, die AfD als Prüf- sowie die Junge Alternative (JA) und die Untergliederung "Der Flügel" als Verdachtsfall einzustufen. Diese Entscheidung basiert auf einem 436 Seiten umfassenden Gutachten, das "tatsächliche Anhaltspunkten für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung" dokumentieren soll.

Die staatliche Beobachtung einer politischen Partei sei nur zum Schutz besonders hochwertiger Rechtsgüter zulässig, heißt es in dem Gutachten. Dies ist der Fall, wenn Verfassungsgrundsätze betroffen sind, die auch vom Bundesverfassungsgericht als wesentliche Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung anerkannt werden. Dies sind die Menschenwürde, das Demokratieprinzip und das Rechtsstaatsprinzip.

Abwertung von Flüchtlingen

Immer wieder verweist der Verfassungsschutz auf die Bedeutung der Menschenwürde für das Grundgesetz. So seien Verdächtigungen gegen Migranten und die Ungleichbehandlung einzelner Menschengruppen aufgrund von Herkunft oder Geschlecht mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unvereinbar.

Das Gutachten listet Beispiele auf, in denen Flüchtlinge als "krimineller Dreck", "Versuchseroberer" oder "Afro-Invasoren" beleidigt werden, die häufig "hochgradig gefährliche und infektiöse Krankheiten" hätten. Pauschal würden Flüchtlinge "Aggressoren" genannt, wodurch sie als Gruppe abgewertet und würden deren Menschenwürde eindeutig in Frage gestellt.

Bei der Jungen Alternative finde sich eine solche Ungleichbehandlung sogar im "Deutschlandplan", wo sie männliche Flüchtlinge pauschal verächtlich mache und dafür plädiere, eine abendliche Ausgangssperre für sie zu verhängen.

Gefahr für Religionsfreiheit

In dem Gutachten werden ausführlich grenzwertige Äußerungen sowie Forderungen von AfD und Teilorganisationen im Hinblick auf die Religionsfreiheit aufgeführt. Insbesondere verweist das Gutachten auf Forderungen nach gesetzlichen Einschränkungen für Grundrechte von Muslimen.

Zwar bekenne sich die AfD grundsätzlich zur Religionsfreiheit, doch würden sich einzelne Untergliederungen "mitunter in kompromissloser Weise" gegen die bloße Präsenz des Islam in Europa aussprechen. Sollte die AfD die Macht übernehmen, erscheine die Gewährung der uneingeschränkten Religionsfreiheit "zumindest zweifelhaft".

Die "Junge Alternative Stuttgart", demonstriert gegen den Neubau einer Ditib-Moschee in Stuttgart-Feuerbach

Die "Junge Alternative Stuttgart", demonstriert gegen den Neubau einer Moschee in Stuttgart.

Bei der Jungen Alternative stellt das Gutachten fest, dass Muslime "als ihrer Natur nach kriminell, aggressiv, triebgesteuert und gefährlich dargestellt" werden. Es sei nicht zulässig, ihnen das Recht auf freie Selbstentfaltung, Religionsausübung oder politische Teilhabe abzusprechen. Dies gelte insbesondere im Hinblick auf eine verlangte "vollständige Anpassung in Verhalten und Denken an den Durchschnittsdeutschen".

Muslimen werde von JA-Funktionären nicht nur die Religionsfreiheit abgesprochen, sondern generell auch ihr Recht auf Aufenthalt in Deutschland.

Verunglimpfung des Parlamentarismus

Die Junge Alternative verunglimpfe durch Schmähkritik demokratisch legitimierte Repräsentanten und versuche so, den Parlamentarismus als Ganzes verächtlich zu machen. Da die JA die AfD als einzige wahre Alternative im politischen Willensbildungsprozess darstelle, ließen die Äußerungen der JA den Schluss zu, "dass im Ergebnis die Altparteien abgeschafft und die AfD ihr völkisches Konzept kompromisslos umsetzen soll". Die Gutachter bescheinigen der Jungen Alternative "erste tatsächliche Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen das Demokratieprinzip".

Der Verfassungsschutz dokumentiert auch von AfD-Funktionären Äußerungen, die darauf abzielen, "den Parlamentarismus verächtlich zu machen, ohne eine am pluralistischen Demokratieverständnis ausgerichtete Alternative aufzuzeigen".

Verfassungsschutzrelevanz entfalte beispielsweise Björn Höcke mit seinen Tiraden gegen die vermeintlich "gewucherte Parteiendemokratie", die eine "wirkliche Demokratie" verhindere und die Bundesrepublik zu "einem politischen Swinger-Club" habe verkommen lassen. Die Thüringer AfD wählte Höcke im Herbst mit 84,4 Prozent zum Spitzenkandidaten für die bevorstehende Landtagswahl.

Gefahr für den Rechtsstaat

Redner auf den Kyffhäusertreffen gaben dem Gutachten zufolge in mehreren Beiträgen zu verstehen, dass sie nicht bereit seien, demokratische Entscheidungen zu akzeptieren, die ihrer völkisch-nationalistischen Ideologie widersprechen. So habe Björn Höcke in einer Rede die AfD als "letzte evolutionäre Chance" Deutschlands bezeichnet - dies impliziere, "dass er im Falle des Scheiterns der AfD nur noch eine revolutionäre Option sieht". Der AfD-Politiker Andreas Kalbitz habe diese Konsequenz dann auch ausgesprochen: Im Falle eines Scheiterns gelte für ihn: "Danach kommt nur noch: Helm auf!" Die Junge Alternative stellte zudem das Gewaltmonopol des Staates in Frage.

In Aussagen von Führungsfunktionären der AfD finden sich dem Gutachten zufolge "erste Anhaltspunkte für eine Missachtung des Rechtsstaatsprinzips". Dies sei insbesondere dort der Fall, wo Gesetze gefordert würden, die eine bestimmte Bevölkerungsgruppe aufgrund ihrer Religion anders behandeln sollen. Eine gesetzliche Ungleichbehandlung aufgrund der Religionszugehörigkeit wäre mit den die freiheitliche demokratische Grundordnung prägenden Aspekten der Menschenwürdegarantie aber unvereinbar und verfassungswidrig.

AfD-Funktionäre beim Kyffhäusertreffen

Mitglieder der AfD-Parteiführung lassen sich vor dem Kyffhäusertreffen "Der Flügel" fotografieren, darunter Björn Höcke, Alexander Gauland und Jörg Meuthen

Revisionismus

Ebenfalls eine wichtige Rolle in dem Gutachten spielt der Revisionismus. So sei es bemerkenswert, dass in der Jungen Alternative "eine breite Bereitschaft zu bestehen scheint, Verbrechen des Nationalsozialismus zu verharmlosen und zu relativieren". Die wiederholte Forderung, den vermeintlichen "Schuldkult" zu beenden, sei ebenfalls dazu geeignet, NS-Verbrechen zu relativieren. Auch AfD-Landesverbände greifen Aspekte auf, die Anknüpfungspunkte für geschichtsrevisionistische bzw. NS-relativierende Ansichten eröffnen könnten.

In diesem Kontext spielt AfD-Funktionär Björn Höcke eine besondere Rolle. Der Verfassungsschutz geht davon aus, dass er unter dem Pseudonym "Landolf Ladig" in einer Neonazi-Postille geschrieben habe. In der Gesamtschau, so heißt es, sei eine Identität zwischen "Ladig" und Höcke "angesichts der plausibilisierten Faktendichte nahezu mit Gewissheit anzunehmen". Der Verfassungsschutz bezieht sich dabei auf Recherchen des AfD-Experten Andreas Kemper.

Die analysierten "Ladig"-Texte bringen demnach eine zweifelsfrei verfassungsfeindliche Haltung sowie eine "dezidiert positive Bezugnahme auf den historischen Nationalsozialismus als Idee" zum Ausdruck. Dazu komme eine "radikalrevisionistische Umdeutung der den Zweiten Weltkrieg auslösenden Ursachen".

AfD und "Pegida" gemeinsam in Chemnitz

Höcke soll als "Landolf Ladig" in einem Neonazi-Heft geschrieben haben.

Auf Höcke bezieht sich wiederum unter anderem Parteichef Alexander Gauland - beispielsweise in einer Rede auf dem Kyffhäusertreffen 2017. Weniger scharf als Höcke stelle auch Gauland das Diktum auf, "unsere Identität" solle zerstört werden. Man solle wieder "stolz […] sein auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen". Gauland setze die Weltkriege gleich - heißt es in dem Gutachten - verkenne "vollends den Charakter der Wehrmacht als Machtinstrument in einem ideologisch geprägten Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg" sowie die Beteiligung von Wehrmachtseinheiten am Holocaust.

Ethnisches Verständnis von Volk

Ein an ethnischen Kategorien orientiertes Verständnis des Staatsvolkes sei dem Grundgesetz fremd, betonten die Gutachter. Bei der Bestimmung des Volkes im Sinne des Grundgesetzes komme der ethnischen Zuordnung keine exkludierende - also ausschließende - Bedeutung zu. Wer die deutsche Staatsangehörigkeit erwirbt, ist aus Sicht der Verfassung unabhängig von seiner ethnischen Herkunft Teil des Volkes.

Die Junge Alternative verwende hingegen weitgehend einen streng ethnischen Volksbegriff. Deutsch sind danach nur diejenigen, die ethnisch dem deutschen Volk zugeordnet werden könnten. Als Konsequenz dieses ethnisch konnotierten, fremden- und vor allem islamfeindlichen Weltbildes sollen Minderheiten von einer gleichberechtigten Teilhabe innerhalb der Gemeinschaft ausgeschlossen werden.

Eine völkisch-nationalistische Grundhaltung trete etwa auch dann zutage, wenn die Behauptung aufgestellt wird, die Migrationspolitik führe zu einem "schleichenden Genozid" der deutschen Bevölkerung bzw. bewirke einen "Bevölkerungsaustausch".

Diese Äußerungen verdeutlichen das Denken in geschlossen ethnokulturellen Kategorien, demzufolge Interessen sich zuvorderst im Rahmen ethnischer Zugehörigkeit artikulieren. In vielen der oben ausgewerteten Aussagen wird die völlig übersteigerte Fixierung vieler AfD-Funktionäre auf ein ethnozentristisch konstruiertes Volk deutlich. Diese bewusste Exklusion bestimmter Bevölkerungsgruppen steht im Widerspruch zur Menschenwürde.

Fazit zur AfD

Die Gutachter sehen "erste tatsächliche Anhaltspunkte" für "eine extremistische Bestrebung" der AfD. Ihre Programmatik habe sich trotz ihrer vergleichbar kurzen Geschichte "kontinuierlich verschärft"; eine parallele Entwicklung sei bei den zurechenbaren Äußerungen zu erkennen.

Die Programmschriften für sich genommen enthalten dem Gutachten zufolge jedoch keine ausreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Die programmatischen Aussagen seien "überwiegend vage, was potenziell intendiert sein kann" - also beabsichtigt.

Bemerkenswert sei, dass Landesverbände teils radikale Schwerpunkte erkennen lassen. Insofern entstehe der Eindruck "einer ideologisch nicht geeinten Partei". Die Analyse zeige aber, dass die Partei insgesamt bestimmte Themen wie Migration, Kriminalität oder auch Genderpolitik in überproportionaler Form anspreche. Außerdem würden Probleme, die mit diesen Themen in keinem inhaltlichen Zusammenhang stehen, damit verknüpft, um Feindbilder im politischen Diskurs zu etablieren. So werden beispielsweise sozialpolitische Missstände oder vermeintliche Verschlechterungen der Sicherheit einzig mit der Zuwanderung von Ausländern begründet.

Einige Führungsfunktionäre vertreten laut Verfassungsschutz ein mit der Menschenwürdegarantie unvereinbares, stark ethnisch konnotiertes Volksverständnis; andere äußern "teils eine streng völkisch-nationalistische Grundhaltung". Zudem nutzen Funktionäre Begriffe, die eine Parallele zum rechtsextremistischen Diskurs erkennen ließen. Dies sei etwa der Fall, wenn Begriffe wie "Überfremdung" oder "Bevölkerungsaustausch" genutzt werden.

Fazit zur Jungen Alternative

Das Gutachten sieht zahlreiche Äußerungen, die teils eindeutig verfassungswidrig seien. Auf Basis der Analyse ergeben sich demnach "hinreichend gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass die JA als Ganzes Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung verfolgt" und es sich um "eine extremistische Bestrebung" handelt.

Ein Plakat der Jugendorganisation der AfD - Junge Alternative

Die JA tritt offener radikal auf als die Mutterpartei.

Eine gründliche politikwissenschaftliche und juristische Analyse der Aussagen der JA legt nahe, dass sie die Würde des Menschen als obersten Wert der Verfassung nicht respektiert. Sie zielt auf den Vorrang eines ethnisch-homogenen Volksbegriffs und macht die, die dieser ethnisch geschlossenen Gemeinschaft nicht angehören, in eindeutiger Weise verächtlich.

Der Verfassungsschutz wird die AfD-Jugendorganisation "im Rahmen der Verdachtsfallbearbeitung" systematisch beobachten. Dies ermögliche "die personenbezogene Auswertung und eine Speicherung von personenbezogenen Daten in Dateien und Akten und, wo die zusätzlichen Voraussetzungen vorliegen, den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel".

Fazit zum Flügel

Der Flügel wirke mit seinen verfassungsfeindlichen Aussagen in die Mutterpartei hinein. Insbesondere würden die beiden Parteivorsitzenden Alexander Gauland und Jörg Meuthen nicht nur regelmäßig an den Kyffhäusertreffen teilnehmen und dort Reden halten. Sie fielen auch dadurch auf, dass sie sich in diesen Reden radikaler als sonst äußerten.

Höcke bei einer Rede

Führungsfigur des völkischen Flügels: Björn Höcke

Tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen ergeben sich dem Gutachten zufolge aus Reden sowie aus Aussagen auf der Homepage und der Facebook-Seite des Flügels. Hinzu komme, dass die zentrale Führungsfigur, Björn Höcke, sich auch sonst in "verfassungsschutzrelevanter" Weise äußere.

Eine Gesamtschau der Vielzahl der diffamierenden und die menschliche Würde missachtenden Positionierungen, auch unter Berücksichtigung der Verbundenheit mit ideologischen Aspekten des Nationalsozialismus, dokumentieren, dass es sich nicht um einzelne Entgleisungen, sondern um eine charakteristische Grundtendenz innerhalb des Flügels handelt.

Die Gutachter beschreiben ein "Widerstandsmilieu" und befürchten, dass sich die Organisation insbesondere gegen das Gewaltmonopol des Staates richten könnte. Hier wird offenkundig ein ausgeprägtes nationalrevolutionäres Potenzial vermutet.

Im Ergebnis lasse "sich eine Vielzahl völkischnationalistischer und minderheitenfeindlicher Äußerungen feststellen", die in ihrer Gesamtheit gegen die drei wesentlichen Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung - Menschenwürde, Demokratieprinzip, Rechtsstaatsprinzip - verstoßen.