Biergarten mit Betretungsverbotsschild (Archivbild)
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Maßnahmen gegen Corona War der "Lockdown" unnötig?

Stand: 21.04.2020 14:12 Uhr

Die strikten Maßnahmen gegen das Coronavirus seien übertrieben - so lautet die These einiger Wissenschaftler. Sie beziehen sich auf RKI-Statistiken. Welche Kennzahlen über die Ausbreitung gibt es? Und was sagen sie aus?

Schweden habe es vorgemacht: Der "Lockdown" habe nichts gebracht. Diese These vertritt unter anderen der Finanzwissenschaftler Stefan Homburg. Er führt dazu die Reproduktionszahl R ran, die sich bereits vor den am 23. März getroffenen Maßnahmen stabilisiert habe. Was er allerdings nicht erwähnte: Bereits zuvor hatte es einschneidende Vorkehrungen gegen die Verbreitung gegeben.

Homburg erklärt inzwischen dazu, dass die Entwicklung der R-Zahl nichts über die Wirkung dieser Maßnahmen aussage. Gleichzeitig bezieht er sich aber auf die Entwicklung der Reproduktionszahl, um zu beweisen, dass die der nun folgende Maßnahme, nämlich der Lockdown, angeblich unwirksam sei.

Ähnlich kritisch zum "Lockdown" äußerte sich der Biostatistiker Knut Wittkowski, nach eigenen Angaben ehemaliger Professor an der Rockefeller Universität in New York, was diese jedoch dementiert. Er prognostizierte am 10. April für die USA einen bevorstehenden Rückgang der Corona-Fälle und erklärte, die Epidemie in Südkorea würde auslaufen.

Zudem sei die Epidemie in Schweden, in dem des deutlich weniger Einschränkungen gab, ähnlich verlaufen wie in Dänemark, Finnland und Norwegen. Wittkowski bezog sich dabei auf vorläufige Kennzahlen - beide Behauptungen wurden inzwischen von der Realität widerlegt.

Was sind absolute Kennzahlen?

Bei einer Epidemie können einige Werte mehr oder weniger direkt bestimmt werden. Konkret sind das:

  • die Anzahl der Infizierten
  • die Anzahl der Erkrankten
  • die Anzahl der Genesenen
  • die Anzahl der aktiven Fälle
  • die Anzahl der Verstorbenen
  • Länge und Schwere des Verlaufs

Welche Probleme gibt es bei der Erfassung?

Bei allen Werten gib es eine hohe Dunkelziffer: So hängt die ermittelte Zahl der Infizierten davon ab, wie viele und welche Probanden getestet werden. Wird zum Beispiel nur bei Menschen mit Symptomen nach dem Virus gesucht, fallen solche ohne Krankheitserscheinungen durch das Raster - ebenso solche, die erkrankt und genesen sind, aber nicht getestet wurden.

Bei Erkrankten und Verstorbenen ist nicht immer eindeutig zu klären, inwieweit das Virus für Krankheit und Tod ursächlich war. Entsprechende Ungenauigkeiten wirken sich auf alle Berechnungen aus, die aus den ermittelten Werten abgeleitet werden.

Wie wird die Ausbreitung einer Epidemie bemessen?

Dafür gibt es verschiedene Messgrößen: So kann man die absoluten Zahl der gemeldeten Infektionsfälle oder das Verhältnis der Infizierten zu den Nichtinfizierten betrachten. Weitere Kennzahlen sind die Verdoppelungszahl, also die Zeit, in der sich die Zahl der Infizierten verdoppelt. Diese gibt insbesondere zu Beginn einer Epidemie einen Eindruck über die Geschwindigkeit, mit der sie sich ausbreitet. Ändert sich die Zahl der Fälle jedoch weniger stark, wird dieser Wert zunehmend ungenauer und kann durch "Ausreißer" wie verspätete Meldungen massiv schwanken.

Experten halten in dieser Phase die Ermittlung der Basisreproduktionszahl R für sinnvoll. Sie gibt an, wie viele Menschen von einem Infizierten angesteckt werden: Bei einem Wert von zwei steckt jeder Virusträger zwei weitere Personen an. Bei einem Wert kleiner als eins würde die Epidemie auslaufen, da die Anzahl der ansteckenden Virusträger durch Genesung oder Tod geringer werden.

Der R-Wert der Corona-Epidemie in Deutschland liegt um eins. Ist das dann nicht ein Zeichen, dass diese bald beendet ist?

Kritiker führen an, dass laut Robert Koch-Institut die Basisreproduktionszahl R bereits etwa ab dem 20. März, also einige Tage nach der weiteren Verschärfung der Corona-Maßnahmen und noch vor dem "Lockdown" bei eins oder sogar leicht darunter lag - und leiten daraus ab, dass die Maßnahmen aufgehoben werden könnten.

Was beim R-Wert jedoch zu beachten ist: Schon kleinste Änderungen können massive Folgen haben. Laut der Helmholtz-Initiative "Systemische Epidemiologische Analyse der Covid-19-Epidemie" muss die Zahl dauerhaft unter eins liegen, damit die Gefahr gebannt ist. Dabei kommt es auf wenige Zehntel, also auf Änderungen, die kleiner sind als die Messgenauigkeit, an. Laut Kanzlerin Angela Merkel würde schon bei einem Anstieg auf 1,1 das Gesundheitssystem im Oktober an seine Belastungsgrenze gelangen. Bei einem Wert von 1,3 wäre das laut den Modellrechnungen bereits im Juni der Fall.

Wie lange müsste der R-Wert stabil bleiben?

Das lässt sich so nicht sagen. Gérard Krause, der Koordinator für Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung warnt davor, die Entscheidung an einzelnen Kennzahlen festzumachen. Hauptsächlich solle man sich dabei an der Zahl der schweren Erkrankungsverläufe und der Kapazität des Gesundheitssystems orientieren, erklärte er auf Anfrage von tagesschau.de. "Die Folgen einer zu voreiligen oder ungezielten Lockerung sind klar: Dann kann es zu neuen Ausbrüchen oder einen starken Wiederanstieg der Gesamtwelle kommen."

So könne man durchaus erwägen, Elemente des aktuellen Maßnahmenbündels, beispielsweise die allgemeinen Mobilitäts- und Kontakteinschränkungen, vorsichtig zu lockern. Dann müssten jedoch zugleich andere wirksame Maßnahmen so gestärkt werden, dass der Gesamteffekt trotzdem gut bleibe, erklärt Krause weiter. "Das alles lässt sich nur sehr schwer gegeneinander aufrechnen. Es geht auch nicht nur um die Folgen der Infektion, sondern auch um die Folgen der Maßnahmen." Diese komplexen Zusammenhänge dürfe man keinesfalls aus den Bewertungen ausklammern.

Was ist die Konsequenz daraus?

Einzelne Kennzahlen sagen nur wenig über den Verlauf einer Pandemie aus. Aus ihnen direkte Schlüsse für den weiteren Verlauf ziehen zu wollen, ist zumindest fahrlässig - wie nicht zuletzt auch viele Prognosen der "Lockdown"-Kritiker zeigen, die von der Realität inzwischen widerlegt worden sind.

Daher sind sich viele Experten einig: Das konservative Vorgehen, also das tendenziell vorsichtige und eher pessimistische Betrachten einzelner positiver Tendenzen, ist angebracht, bevor daraus praktische Konsequenzen - wie die Rücknahme von Maßnahmen gegen die Pandemie - gezogen werden.

Anmerkung: In einer ersten Version hieß es: "Homburg erklärt inzwischen dazu, dass die Entwicklung der R-Zahl nichts über die Wirkung dieser Maßnahmen aussage. Gleichzeitig bezieht er sich aber auf die Entwicklung der Reproduktionszahl, um zu beweisen, dass die folgenden Maßnahmen angeblich unwirksam sei." Um klarzustellen, dass hiermit der "Lockdown" gemeint war, haben wir den Begriff zusätzlich eingefügt. Zudem hieß es irrtümlich, Wittkowski habe am 10. März für die USA einen bevorstehenden Rückgang der Corona-Fälle prognostiziert. Dies geschah am 10. April.

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