Ein Mann sitzt vor einem Fenster.

Corona und Psyche Größere Belastung - weniger Therapien

Stand: 29.04.2020 11:05 Uhr

Je länger die Corona-Krise dauert, desto mehr kann die Seele leiden. Psychisch Erkrankte trifft das besonders hart. Viele Therapieangebote sind weggefallen. Das könnte schwerwiegende Folgen haben.

Von Sandra Stalinski, ARD-aktuell

Tag 38 der Kontaktbeschränkungen. Allmählich schlägt das mangelnde Sozialleben auf die Stimmung. Hier und da meldet sich der Rücken, weil Sport und Bewegung fehlen. Oder der Schlaf wird schlechter, weil es sich im Homeoffice nicht gut abschalten lässt.

Was schon gesunden und stabilen Menschen mehr und mehr zu schaffen macht, trifft psychisch Erkrankte besonders hart. Und das sind viele: Experten schätzen, dass etwa 30 Prozent der Menschen in Deutschland unter psychischen Belastungen leiden - das Spektrum reicht von leichten Angststörungen bis zu schweren Psychosen.

Ute Lewitzka, Fachärztin für Psychiatrie am Dresdner Uniklinikum und Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention, erklärt: "Wer ohnehin schon mit einem schweren Rucksack einer psychischen Erkrankung durchs Leben geht, den können die derzeitigen Belastungen besonders schwer treffen."

"Die Folge kann ein Teufelskreis sein"

Besonders trifft das auf Menschen zu, die unter Angststörungen und Depressionen leiden. "Ängste können sich in so einer Zeit der Unsicherheiten noch verstärken und auch depressive Symptome können zunehmen, wenn soziale Kontakte wegfallen", sagt Lewitzka im Gespräch mit tagesschau.de.

Bei Patienten mit Depressionen beispielsweise sind geregelte Tagesabläufe und regelmäßige Sozialkontakte Teil der Therapie. Bestimmte Aktivitäten können die Stimmung heben, feste Termine geben dem Tag Struktur. Wenn all das jetzt wegbricht, sehen manche Erkrankte keinen Grund mehr, überhaupt noch aufzustehen. "Die Folge kann ein Teufelskreis sein, weil Patienten dann in den Tag hineinschlafen und nachts wach sind, was häufig zu negativen Gefühlen führt und auch gesundheitliche Auswirkungen haben kann", betont Claudia Bergner, Psychotherapeutin beim Berliner Zentrum Überleben im Gespräch mit tagesschau.de.

Größeres Behandlungsangebot gerade jetzt vonnöten

Auch Peter Falkai, Direktor der psychiatrischen Klinik in der Nussbaumstraße in München, macht die Erfahrung, dass psychisch Kranke oft besonders schwer mit der Bedrohung durch die Corona-Pandemie fertig werden. "Als Kliniker beobachten wir das immer wieder", sagt er gegenüber dem Bayerischen Rundfunk und nennt als Beispiel Neuaufnahmen von Patienten mit Suchterkrankung oder Depression, aber auch eine Zunahme an Suizidgedanken und -impulsen. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) warnte schon zu Beginn der Krise vor einer möglichen Zunahme von Suiziden.

Eigentlich, so die logische Schlussfolgerung, bräuchte es in einer Zeit solch außergewöhnlicher Belastungen also ein größeres Angebot an psychologischer und psychiatrischer Betreuung. Das Gegenteil ist allerdings der Fall. Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken, die auch zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden können, wurden zurückgestellt. Manche Kliniken haben ganze Stationen geschlossen, um sie für Covid-19-Patienten vorzuhalten.

Ein Drittel der Betten freigehalten

Etwa ein Drittel bis ein Viertel der Betten seien freigehalten oder mit Corona-Patienten belegt, schätzt DGPPN-Präsident Andreas Heinz. Noch mehr betroffen ist offenbar der ambulante Bereich. Hier fallen seit Beginn der Krise etwa die Hälfte aller Therapieangebote aus, schätzt Fredi Lang vom Berufsverband deutscher Psychologinnen und Psychologen, weil Tageskliniken geschlossen seien, Gruppentherapien nicht mehr stattfinden könnten und niedergelassene Therapeuten nicht mehr alle Patienten behandeln könnten.

Psychotherapeuten können zwar nach wie vor in ihrer Praxis Patienten empfangen, wenn Abstands- und Hygieneregeln eingehalten werden. "Doch wenn Therapeut oder Patient der Risikogruppe angehören, kommen sie in der Regel nicht mehr in die Praxis", sagt Lang im Gespräch mit tagesschau.de. Gerade am Anfang der Krise hätten viele aus Angst, das Haus zu verlassen, Therapiesitzungen abgesagt.

Hilfe und Rat in Zeiten von Corona
Sollten Sie selbst, Angehörige oder Personen in Ihrem Umfeld von Angst und psychischen Problemen aufgrund der Corona-Krise betroffen sein, können Sie bei folgenden Anlaufstellen Hilfe und Beratung finden:

Telefonseelsorge: Anonyme Beratung per Telefon, Chat oder E-Mail - 24 Stunden am Tag
Tel.: 0800 - 111 0 111 oder 0800 - 111 0 222

"Nummer gegen Kummer": für Kinder und Jugendliche
Tel.: 0800 - 116 111

Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen":
Tel.: 08000 - 116 016

Elterntelefon:
Tel.: 0800 – 111 0 550

Info-Telefon der Deutschen Depressionshilfe: Vermittelt Kontakt zu Experten und Anlaufstellen
Tel.: 0800 - 33 44 533

Opfer-Telefon des Weißen Rings:
Tel.: 116 006

Sämtliche Angebote stehen Betroffenen kostenfrei zur Verfügung.

Wird es Welle psychischer Erkrankungen geben?

Eine Alternative sind Videositzungen. Viele Therapeuten und Patienten machen damit aktuell gute Erfahrungen. Allerdings fehlen manchen dafür die technischen Voraussetzungen. Gerade ältere Patienten nehmen das nur selten in Anspruch. Bleiben als letzte Möglichkeit noch Therapiegespräche am Telefon. Doch die werden in geringerem Umfang von den Kassen übernommen als Sitzungen in der Praxis beziehungsweise über Video.

Versorgungsengpässe bei gleichzeitig größerer Belastung - heißt das, es wird bald eine Welle von psychischen Erkrankungen geben? Davon gehen die meisten Fachleute eher nicht aus. Dass sich bestehende Krankheitsbilder oder Symptome verschlimmern können, da sind sich Experten einig. Gerade im Falle von Depressionen, Angststörungen, Suchterkrankungen, aber auch bei Zwangsstörungen, Psychosen oder Traumata. Dass es aber eine massive Zunahme an chronischen psychischen Erkrankungen geben wird, glauben sie eher nicht.

"Menschen haben unglaubliche Ressourcen"

Es gibt nämlich auch die gegenteilige Beobachtung, dass Menschen mit oder ohne psychische Erkrankung solche Krisensituationen "ganz gut meistern", sagt Lewitzka vom Dresdner Uniklinikum. Menschen hätten oft unglaubliche Kräfte und Ressourcen, selbst wenn sie schon viele Schicksalsschläge erlebt hätten. Sie warnt vor allem vor Pauschalisierungen: Nicht alle Menschen mit psychischen Erkrankungen seien jetzt besonders gefährdet.

Womöglich, so befürchten manche, werden die Folgen bei einigen erst nach der Krise so richtig durchschlagen. Wenn die Normalität wieder einzieht und viele anfangen zu realisieren, was sie durch die Krise verloren haben - Jobverlust, Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation, Trennungen - könnte das psychische Krisen auslösen.

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