Wahl des EU-Parlamentschefs Adrenalin, Taktik und Intrigen
Martin Schulz geht - und bringt das EU-Machtgefüge ins Wanken. Allianzen sind zerbrochen, geheime Männerbünde aufgekündigt. Heute ist Krimi-Tag: Ein Nachfolger für Schulz wird gewählt. Und das ist mehr als eine schnöde Personalfrage.
Martin Schulz hinterlässt große Fußstapfen. Der Mann aus Würselen hat wie kaum ein Präsident zuvor das Europaparlament verkörpert. Er war laut, drängelnd, gut vernetzt. Er hat das Parlament, das früher eher im Schatten des Europäischen Rates und der EU-Kommission stand, zu neuer Stärke geredet. Und: Er hat für Mehrheiten gesorgt. Eine Art Große Koalition aus den Christdemokraten (zusammengeschlossen in der EVP), den Sozialisten und Sozialdemokraten (S&D) sowie den Liberalen (ALDE) besprach Gesetzesvorhaben mit Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker - und setzte sie um.
Er geht - und bringt einiges ins Wanken in Straßburg: Martin Schulz
Das Kalkül dahinter: Die europäischen Institutionen Parlament und Kommission sollten gemeinsam ein Gegengewicht gegen die Eigeninteressen der Mitgliedsstaaten bilden, die im Europäischen Rat versammelt sind. Der Nachteil: Viele Abgeordnete hatten das Gefühl, nur noch abnicken zu können, was Juncker, Schulz und die drei Fraktionschefs vorher im kleinen Kreis (im Brüssel-Slang "G5") abgesprochen hatten.
Und: Das Parlament, das die Kommission eigentlich kritisch überwachen soll, wurde zu deren treuen Partner. Ein Partner, der Jean-Claude Juncker sehr schonend behandelte, als es um die Steuerpraktiken in Luxemburg während dessen Regierungszeit dort ging. Ein Partner, der auch Günther Oettinger kürzlich nur lauwarm befragte, als Juncker ihn trotz umstrittener "Schlitzaugen"-Äußerungen beförderte.
Schulz' politisches Vermächtnis
Das politische Vermächtnis des Martin Schulz ist also ein Parlament, das mitredet und sichtbar ist. Dafür zahlt es den Preis, angepasst zu wirken und folgsam zu sein. Soll das so weitergehen? Das ist die eigentliche Frage, um die es bei der Wahl des neuen Parlamentspräsidenten geht. Das Gemaule über einen zu starken, zu politischen Präsidenten wie Schulz findet der liberale Kandidat Guy Verhofstadt aus Belgien absurd: "Wer sagt, dass der Parlamentspräsident nicht politisch sein sollte, der findet auch, dass der Papst nicht katholisch sein darf."
Seine Fraktion hat nur 68 Abgeordnete. Verhofstadt galt allerdings bislang als ein Kandidat, auf den sich die großen Fraktionen in einem späteren Wahlgang einigen könnten. Dass er zuletzt eine Aufnahme der EU-Abgeordneten der Euro-feindlichen Fünf-Sterne-Bewegung aus Italien erwogen hat, kostete ihn aber Sympathien bei den Parteien der politischen Mitte im Parlament.
Schluss mit Absprachen in Hinterzimmern
Das sehen manche ganz anders. Die Kandidaten Gianni Pitella (S&D, Italien) und der Favorit für die Schulz-Nachfolge, Antonio Tajani (EVP, Italien), wollen die Rolle des Präsidenten wieder ändern: Er soll weniger - wie Schulz es war - nach außen politisch aktiv werden, sondern vielmehr die Arbeit im Inneren koordinieren. Politische Ideen sollten wieder in Ausschüssen und im Plenarsaal entstehen - und nicht bei Hinterzimmerabsprachen. "Wir brauchen einen soliden Präsidenten und ein starkes Parlament, nicht anders herum", sagt Tajani.
Der studierte Mediziner Pittella gilt als versierter Europapolitiker, dem viel an der europäischen Integration gelegen ist. Im EU-Parlament selbst will er für mehr Transparenz und demokratischere Prozesse sorgen. Auch seine Fraktion braucht Verbündete, um Pittella in den ersten Wahlgängen die nötige absolute Mehrheit zu verschaffen.
Dienstag ist Krimi-Tag
Das EU-Parlament streitet heftig. Für die heutige Abstimmung rechnen alle mit einem Krimi. Keiner der sieben Bewerber hat die in den ersten Wahlgängen erforderlichen 376 Stimmen sicher - jeder Kandidat muss also Abgeordnete aus anderen Parteien überzeugen. Mit den besten Voraussetzungen startet Antonio Tajani. Seine EVP kommt auf 217 Sitze. Allerdings gilt Tajani als Vertrauter von Italiens Ex-Premier Silvio Berlusconi. Auch die Tatsache, dass er als EU-Industriekommissar den VW-Abgasbetrug nicht bemerkte, führen seine Gegner gegen ihn an.
Pitellas Englisch erinnert an Oettinger
Gianni Pitellas sozialistische Fraktion bringt es auf 189 Sitze. Pitella gilt nicht als großer Charismatiker oder wortgewaltiger Redner - doch er machte aber auch noch keine großen Fehler. Einzig: Wenn er Englisch spricht, werden bei manchen Erinnerungen an Oettinger wach. Das ist bei Guy Verhofstadt von den Liberalen (68 Sitze) anders. Der frühere belgische Premier ist vielsprachig und kosmopolitisch. Er kann, ähnlich wie Schulz, für Europa begeistern. Der britische UKIP-Abgeordnete und Brexit-Vorkämpfer Nigel Farage nennt ihn wegen seines manchmal energischen Auftretens einen "EU-Fanatiker". Vielleicht gerade deshalb glaubt Verhofstadt, Abgeordnete aus anderen Fraktionen in den späteren Wahlgängen für sich gewinnen zu können.
Bevor Tajani 2010 Vize-EU-Kommissionspräsident mit Zuständigkeit Industrie wurde, war er ab 2008 EU-Kommissar für Verkehr - in der Zeit, als es bereits Hinweise darauf gab, dass Autohersteller bei den Abgaswerten manipuliert haben könnten. Es steht der Vorwurf im Raum, Tajani habe weggeschaut.
Für die Grünen gilt er als "unwählbar". Auch bei Sozialdemokraten, Linken, Liberalen und einzelnen Konservativen weckt Tajani Abwehrreflexe. Vielen gilt er als "Berlusconi-Freund" und politisch insgesamt zu weit rechts. Tajani gilt als Netzwerker. EVP-Fraktionschef Manfred Weber lobte ihn als "überzeugten Europäer".
Erbitterte Konkurrenz
Bei so viel erbitterter Konkurrenz ist schon jetzt klar: Die bisherige informelle Große Koalition aus EVP, S&D und ALDE wird nach der Wahl wohl Geschichte sein. Dadurch würde sich auch für die EU-Kommission vieles ändern: Statt das Parlament sicher an seiner Seite zu wissen, müsste Kommissionspräsident Juncker nun für jedes Gesetzesprojekt Abgeordnete überzeugen. "Er muss zuhören und Angebote machen", meint der SPD-Abgeordnete Udo Bullmann. Das klingt nach mehr Demokratie.
Die Gefahr besteht aber auch, dass das Parlament kaum noch Mehrheiten findet. Und das in einer Zeit, in der Europa ohnehin schon nicht besonders handlungsfähig wirkt. Alle Kandidaten betonen, dass es keine Vorabsprachen gibt. Noch nie war das Rennen um den Spitzenposten im Parlament derart offen und spannend. Sollten alle Kandidaten hart bleiben (also nicht vorzeitig aus dem Rennen scheiden und einen anderen Kandidaten unterstützen), könnten am Ende die Europa-Gegner von UKIP oder dem Front National entscheiden, wer Parlamentspräsident wird. Genau das aber wollen Christdemokraten, Sozialisten und Liberale verhindern. Wie das gehen kann? Alle Beobachter sind gespannt - auf einen Dienstag, der Adrenalin, Taktik und Intrigen verspricht.