Die "HMS Defender" der Royal Navy fährt in den ukrainischen Hafen Odessa ein.
Analyse

Spannungen vor der Krim Kalkulierte Aktion im Schwarzen Meer

Stand: 25.06.2021 15:34 Uhr

Vor der Militärübung "Sea Breeze" scheinen die Spannungen zu steigen. Die Kraftprobe zwischen einem britischen Kriegsschiff und Russlands Streitkräften nahe der Krim sehen Experten als kalkulierte Aktion, die beide Seiten bewusst eingingen.

Eine Analyse von Silvia Stöber, tagesschau.de

Es sah nach Entspannung aus - das Treffen von US-Präsident Joe Biden mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin liegt noch keine zwei Wochen zurück. Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schlugen einen EU-Russland-Gipfel vor - Begegnungen auf Augenhöhe, wie sie Putin immer wieder fordert.

Vertreter der russischen Führung äußern sich aber so, als stünde eine militärische Eskalation bevor. Von einer "explosiven" Lage sprach etwa Verteidigungsminister Sergej Schoigu zum Auftakt einer Sicherheitskonferenz in Moskau am Mittwoch. Russischen Medienberichten zufolge überboten sich deren Teilnehmer mit Kritik am Westen nach dem Motto: Wer mit dem Schwert komme, werde mit dem Schwert getötet.

Schoigu erwähnte "Defender Europe" - eine jährlich stattfindende Abfolge von Militärübungen unter Führung der USA mit NATO-Staaten und Partnern. Diese ist nach US-Angaben vom 21. Juni inzwischen abgeschlossen. Am Montag beginnt in der Schwarzmeer-Region die Militärübung "Sea Breeze" mit den USA und der Ukraine als Ausrichtern. 32 Staaten nehmen teil. Das sind so viele wie noch nie, seit "Sea Breeze" 1997 das erste Mal stattfand. Die Bundeswehr ist nicht dabei.

Vorfall am Kap Fiolent

Als hätte es einer Bestätigung für wachsende Spannungen im Vorfeld der Militärübung bedurft, vermeldeten russische Medien am Mittwoch eine "offene Provokation" - einen Vorfall im Schwarzen Meer: Das britische Kriegsschiff HMS Defender sei in "russische Gewässer vor der Halbinsel Krim" eingedrungen. Mit genauer Zeitangabe beschrieb die Agentur TASS, wie die Schwarzmeerflotte und die Grenzschützer des Geheimdienstes FSB das Schiff der Royal Navy vor Kap Fiolent südlich der Krim gestoppt hätten: Nach Warnungen über Funk seien um 12:06 und 12:08 Uhr Warnschüsse abgegeben worden. Um 12:19 Uhr seien Bomben nahe der HMS Defender abgeworfen worden. Vier Minuten später habe das Schiff die russischen Gewässer verlassen.

Als Belege wurden später Videos aus Kampfjets veröffentlicht, die das britische Schiff beschatteten, aber keine Bombenabwürfe zeigen. Die Regierung bestellte den britischen Verteidigungsattaché und die Botschafterin zu Gesprächen ein.

Das Verteidigungsministerium in London reagierte mehr als eine Stunde nach dem Vorfall: Es seien keine Warnschüsse auf die HMS Defender abgegeben worden. Auch der Abwurf von Bomben werde nicht bestätigt. Man gehe davon aus, dass Russland eine Schießübung durchgeführt und vor den Aktivitäten gewarnt habe.

Das Schiff der Royal Navy seinerseits fahre in Übereinstimmung mit internationalem Recht durch ukrainische Gewässer. Damit stellte die Regierung in London klar, dass sie wie die Mehrheit der Staaten weltweit die russische Annexion der Krim und den Anspruch Moskaus auf die Gewässer davor nicht anerkennt.

Der BBC-Korrespondent Jonathan Beale berichtete von Bord der HMS Defender über entfernte Schüsse und Kampjets über dem Schiff, nicht aber von Bombenabwürfen.

Kalkulierbares Ritual

Der britische Russland-Experte Mark Galeotti beschreibt den Vorfall nicht als aus dem Ruder gelaufene Eskalation, sondern als ritualisierte Herausforderung, bei der beide Seiten Absichten und Reaktionen kalkulieren konnten. Vertreter der russischen Führung hätten mit dem altbekannten Narrativ reagiert, wonach ein militärisch-industrieller Komplex eine Eskalation mit Russland herbeiführen und es dämonisieren wolle - gemäß diesem Narrativ wäre russische Militärpolitik nur eine gerechtfertigte Reaktion auf einen aggressiven Gegner.

"Mutig, aber riskant"

Zuletzt hatten russische Streitkräfte nach einem massiven Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine im Frühjahr nur einen Teilabzug vorgenommen. Truppenteile sollen bis zum Spätsommer unter anderem im Schwarzen Meer verbleiben, wenn das Manöver Sapad abgehalten wird. Einheiten der Marine und der Luftwaffe halten derzeit von den russischen Militärbasen in Syrien aus Übungen im Mittelmeer ab.

Innenpolitisch sind die Berichte vom Schwarzen Meer dazu geeignet, von der Corona-Lage in Russland und den Einschränkungen nicht kremltreuer Politiker und Bürgerengagements vor der Duma-Wahl im September abzulenken: Putin präsentiert sich stattdessen als Verteidiger Russlands.

Dem britischen Premier Boris Johnson kann ein Signal militärischer Stärke ebenfalls gelegen kommen. Im Frühjahr hatte er ambitionierte Pläne einer neuen Außen- und Sicherheitspolitik vorgelegt. Das britische Magazin "The Economist" schrieb denn auch, weder die USA noch ein anderer NATO-Staat sei bisher so weit gegangen, ein Kriegsschiff mit einem Journalisten an Bord durch die Gewässer vor der Krim zu schicken, um Russlands Anspruch auf die Krim zu widersprechen. Großbritanniens Schritt sei "mutig, aber riskant" gewesen.

Andere Militärexperten in Großbritannien warnten hingegen vor möglichen Folgen der Desinformation, die um den Vorfall herum gesponnen werde. Dies gilt auch für die kommende Woche beginnende Militärübung "Sea Breeze".

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