Eine Luftaufnahme des Flüchtlingslagers auf Lesbos.
Reportage

Flüchtlingslager auf Lesbos Warnungen vor neuen Katastrophen

Stand: 04.12.2019 02:32 Uhr

Für die 16.000 Flüchtlinge, die im und um das Registrierungszentrum herum auf Lesbos ausharren müssen, hat sich unter der neuen griechischen Regierung nichts verbessert, aber einiges verschlechtert.

Kinder spielen mit Murmeln in der Sonne, dicht daneben nageln Männer neue, einfache Holzhütten zusammen. Und in selbstgebauten Tonöfen backen afghanische Frauen knuspriges Fladenbrot. Auf den ersten Blick wirkt dieser Nachmittag fast idyllisch im "Olive Grove", dem sogenannten wilden Camp rund um das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos.

Doch beim zweiten Blick fallen die primitiven Zelte dreckige Matratzen und ein gefährlich wirkendes Gewirr aus Stromkabeln auf. Einige Afghanen versuchen, sich eine neue Leitung vom kleinen Verteilerkasten an ihr Zelt zu legen.

"Wir haben seit einer Woche keinen Strom mehr", erklärt Farid den Ärger der Männer. "Ich weiß auch nicht genau, was passiert ist." Im Hauptort Mytilini habe es einen Stromausfall gegeben, seither seien die Leitungen tot. "Das heißt: abends und nachts kein gutes Licht. Du kannst Dir vorstellen, was das bedeutet, wenn durch Regen das Zelt vollläuft und Du eigentlich reparieren und räumen musst. Und dann steht da alles voll Wasser - alles ist nass."

Von der Hoffnungslosigkeit in die Verzweiflung

Tausendfach werden die immer gleichen Geschichten erzählt: von Frauen, die im Registrierungszentrum nachts lieber Windeln tragen, als auf dunkle Toiletten zu gehen. Von Kindern, die wie ihre Eltern im dramatisch überfüllten Camp spüren, dass sie so gut wie keine Hoffnung auf eine Wohnung oder wenigstens ein Zimmer haben.

Aus Hoffnungslosigkeit werde immer häufiger Verzweiflung, warnt der Präsident von "Ärzte ohne Grenzen", Christos Christou, in diesen Tagen nach seinem Besuch auf Lesbos. "Wir haben Fälle von Kindern, die versucht haben, Selbstmord zu begehen", sagt er. Einige seien jünger als zehn Jahre. "Manche Kinder haben aufgehört zu spielen. Sie haben aufgehört zu reden. Sie können nicht mehr schlafen. Denen wird in dem Lager ihre Kindheit geraubt."

Aussitzen statt Probleme lösen

Die Reaktion der griechischen Regierung auf die immer dramatischeren Nachrichten aus den Flüchtlingslagern lässt Unsicherheit vermuten. Erst verkündete Regierungschef Kyriakos Mitsotakis, Abschiebegefängnisse sollten die Situation entschärfen. Standorte für diese neuen Lager wurden festgelegt. Als der Widerstand auf den Inseln - auch durch Bürgermeister - diese Woche immer stärker wurde, wurde aus Regierungskreisen in Athen schnell von einem Umdenken berichtet. Manche nennen es auch: Aussitzen.

Viele Flüchlingshelfer sind nach monatelangem, oft auch jahrelangen Einsätzen ausgebrannt. Im Norden von Lesbos arbeiten weiterhin mehrere Dutzend Retter regelmäßig auch nachts, um neu mit Booten aus der nahen Türkei angekommene Flüchtlinge halbwegs sicher an Land zu bringen.

Immer mehr unbegleitete Kinder

Lucrezia Frabetti von der Hilfsorganisation "Lighthouse" berichtet von einem Einsatz in dieser Woche, der fast schief gegangen wäre: "Zunächst dachten wir, als wir am Boot ankamen an der Küste unten, dass jeder schon in Sicherheit war von den Flüchtlingen. Aber dann war da eine sehr junge Frau, die gelähmt war. Wir mussten sie in einer Trage über Felsen in Sicherheit bringen."

In einer solchen Lage sei es kompliziert, allen Leuten zu erklären, dass sie jetzt wirklich in Sicherheit seien und keine Panik nötig sei, sagt sie. "Und dass wir sie auf sicheres Terrain bringen. Aber auch hier war am Ende alles gut. Wir haben die junge Frau gerettet - und wir haben alle in Sicherheit bringen können."

Dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR macht die hohe Zahl unbegleiteter Minderjähriger Sorgen - mehr als 2000 Kinder sind es inzwischen nach UNHCR-Angaben, die sich auf den griechischen Inseln ohne Eltern durchschlagen müssen. Nicht-Regierungsorganisationen können sich nur ums Nötigste kümmern. Am Camp "Olive Grove" in Moria hat ein geflüchteter afghanischer Journalist eine kleine Schule aus Holz gezimmert - und bietet mit anderen Flüchtlingen Sprach- oder Malkurse an.

Stockende Entlastung

Die junge deutsche Journalistin Franziska Grillmeier, die seit letztem Jahr auf Lesbos lebt, um vom Schicksal der Flüchtlinge zu berichten, wundert sich selbst in diesen Wochen, wie schnell der wilde Teil des Flüchtlingscamps in immer neue Hügel der Olivenhaine von Moria hineinwächst.

"Im September gab es diese Strecke im Camp noch nicht", erklärt sie. "Allein hier leben jetzt um die 8000 Leute." Das heiße auch, dass von dem Elektrizitätsausfall - kein Licht in der Nacht, keine Waschmaschine - inzwischen 8000 Leute betroffen seien. "Ich glaube, es sind sogar noch mehr."

Die versprochene Entlastung der Insel durch Transfers von Flüchtlingen aufs griechische Festland kommt momentan nur stockend voran. Statt Hunderter Migranten müssten viele Tausend möglichst schnell mit Fähren aufs Festland gebracht werden. Denn es sind pro Woche viele Hundert neue Menschen, die neu aus der Türkei ankommen. Und es sieht in diesem Dezember nicht danach aus, dass sie sich von schlechtem Wetter abhalten lassen werden.