Geheimdokumente des IS beleuchten Wie der "Islamische Staat" funktioniert

Stand: 14.11.2014 17:00 Uhr

Der IS bezeichnet sich nicht nur als "Staat" - sondern hat tatsächlich bereits weitgehende staatliche Strukturen errichtet. Dies belegen von NDR, WDR und SZ ausgewertete Geheimpapiere. Die Dokumente bieten einen bislang unbekannten Einblick in die Terrororganisation.

Von Christian Deker, Volkmar Kabisch und Georg Mascolo, NDR-Ressort Investigation

Am 5. Juni 2014 fliegt die irakische Spezialeinheit "Die Falken" aus Bagdad nach Mossul im Norden des Landes. Sie plant einen Coup: Seit vier Jahren ist der irakische Geheimdienst auf der Suche nach Abdel Rahman al-Bilawy - laut Regierung die Nummer zwei der Terrormiliz "Islamischer Staat". Nun endlich finden sie al-Bilawy. Und töten ihn in einem Feuergefecht.


Doch das ist nicht alles. Denn die anschließende Durchsuchung seines Verstecks macht die Kommandoaktion aus irakischer Sicht zu einem besonderen Erfolg: In Kleiderschränken, Sofaritzen und Plastiktüten finden die Soldaten USB-Sticks und Computer-Festplatten. Darauf gespeichert sind große Mengen interner Dokumente des "Islamischen Staats". Sie geben in bislang nicht gekannter Weise Einblicke in die innere Organisation der Terrorgruppe.


Ein Teil der Dokumente - über deren Fund im Juni zunächst der "Guardian" berichtete - wurden nun NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung von der irakischen Regierung zur Verfügung gestellt. Die meisten Papiere stammen aus dem Jahr 2013, einige reichen bis ins Frühjahr 2014, sie beschreiben überwiegend die Lage im Irak. Die Dokumente belegen vieles, was bislang über den IS lediglich vermutet wurde - und sie fügen dem Bild über die Terrormiliz zugleich zahlreiche neue Details hinzu.

Ob Krankheit oder Heirat - der IS kümmert sich um alles


Vor allem dokumentieren die Papiere, dass der IS sich nicht nur als "Staat" bezeichnet, sondern dass er auch so handelt. So gibt es innerhalb der Terrororganisation etwa eine Krankenversicherung, Heiratsbeihilfen und Unterstützungszahlungen für die Familien getöteter oder inhaftierter Kämpfer.


Die Dokumente enthalten außerdem umfangreiche Namenslisten von Kämpfern, detaillierte Listen über Waffenkäufe sowie Personalakten von Selbstmordattentätern. In einer Art Kartei registriert die IS-Führung darin "Märtyrer", die für Selbstmordanschläge abkommandiert sind. Die Attentäter hinterlassen meist eine Telefonnummer, so dass später ihre Familien oder Freunde unterrichtet werden können. Aus den Unterlagen ergibt sich, dass viele aus dem Ausland eingereiste Freiwillige schon eine Woche nach ihrer Ankunft im Irak "ihr" Selbstmordattentat begehen.


Die Unterlagen zeigen zudem, dass alle neun IS-Provinzen innerhalb des Irak offenbar über einen eigenen Etat verfügen. Zwischen den einzelnen Provinzen findet wohl auch eine Art Länderfinanzausgleich statt, bei dem reiche Bezirke Hilfszahlungen an ärmere Bezirke leisten. So sollen offenbar Terroristen in allen Provinzen in die Lage versetzt werden, Anschläge zu verüben.

"Neuwertige" Nachtsichtgeräte zu 2900 Dollar das Stück


Um die Macht im Inneren zu sichern, investiert der "Islamische Staat" zudem hohe Beträge in Sozialleistungen: Die Kosten dafür übersteigen bisweilen sogar die Ausgaben für den Kauf von Waffen. Der IS verfügt über große Summen, die offenbar auch aus Schutzgeldzahlungen stammen, wie die Dokumente nahelegen. Die Ausgaben allein des Bezirks Bagdad-Nord beliefen sich im November 2013 auf insgesamt 493.200 US-Dollar.


Auch über seine Waffenkäufe führt der "Islamische Staat" penibel Buch. So enthält eine interne Einkaufsliste amerikanische M4-Sturmgewehre zum Preis von 8200 US-Dollar pro Stück. Auch "amerikanische neuwertige Nachtsichtgeräte" erwarb der IS laut des Dokuments zum Preis von je 2900 Dollar. Über die beiden Waffengattungen verfügte zu diesem Zeitpunkt auch die irakische Armee. Es besteht der Verdacht, dass die Waffen von korrupten irakischen Militärs stammen könnten.


Die Papiere erlauben darüber hinaus einen Einblick in den Aufbau der militärischen Strukturen des IS. So wird laut einer Liste aus Haditha im Nordwesten des Irak jeder neue Freiwillige registriert. Auf einer Liste werden Dienstgrad - Soldat, Kämpfer oder Emir - und die Bewaffnung festgehalten. In einer gesonderten Spalte werden spezielle Fähigkeiten notiert sowie Abwesenheiten wegen Krankheit oder "Urlaub" verzeichnet. Zudem werden für "besondere Operationen" Bonuszahlungen gewährt. Einem Scharfschützen wurde beispielsweise ein Haus gebaut.

"Der IS will als Staat ernst genommen werden"


Die Dokumente zeigten, dass der islamische Staat sich selbst als Staat ernst nehme, sagt Professor Peter Neumann vom King's College London - NDR, WDR und SZ hatten ihm Teile der Unterlagen zur Beurteilung vorgelegt. Für den islamischen Staat selber sei diese Idee des Staates nicht nur ein Label. "Sie verstehen sich wirklich als Staat, und sie handeln wie ein Staat", so Neumann.


Die Dokumente machten klar, dass der IS sehr gut organisiert sei und dass selbst brutale Akte der Gewalt sehr gezielt eingesetzt würden, sagt Neumann. Der IS setze vielleicht mehr als jede andere Terrororganisation in der Geschichte ganz systematisch den Terror als Mittel der Kriegsführung ein. "Diese Dokumente bestätigen im Prinzip, dass diese gesamte Organisation eigentlich viel rationaler und viel durchdachter ist, als wir uns das bisher vorgestellt haben."


In einer Analyse für die Bundesregierung zeichnet der Bundesnachrichtendienst ein düsteres Bild: Anders als Al Kaida biete der IS das Leben in einem Kalifat. Dies mache den IS für Muslime in aller Welt hochattraktiv und sei einer der Gründe, warum der IS "eine größere Herausforderung für die westliche Staatengemeinschaft“ darstelle als Al Kaida.

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