Interview

Die Rolle der Türkei im Syrien-Konflikt Erdogans Spagat

Stand: 16.05.2013 21:48 Uhr

Der türkische Premier Erdogan war sich bei seinem Besuch in Washington mit US-Präsident Obama einig: Syriens Machthaber Assad muss abtreten. tagesschau.de sprach mit dem Türkei-Experten Ulrich Pick über Erdogans Strategie gegenüber dem Nachbarland.

tagesschau.de: Direkt nach den Anschlägen in Reyhanli hat der türkische Ministerpräsident ja zumindest indirekt mit einem Gegenschlag gegen Syrien gedroht. Für wie realistisch halten Sie eine Reaktion des türkischen Militärs.

Ulrich Pick: Ich halte das für sehr unrealistisch, es handelt sich meiner Meinung nach um eine Verbalattacke. Auch wenn Erdogan sich gerne markant zeigt, er weiß, dass ein militärisches Eingreifen unabsehbare Folgen haben dürfte. Zudem kann die Türkei - gerade als NATO-Partner - keine Alleingänge durchführen. Gleichwohl muss die türkische Regierung natürlich Position beziehen.

tagesschau.de: Nach den Anschlägen haben die türkischen Behörden sehr schnell Verdächtige präsentiert, die aus dem linksextremen Milieu stammen und Kontakte nach Syrien haben sollen. Außerdem wird spekuliert, dass Religion eine Rolle spielen könnte - denn in der Region leben mehrheitliche Alawiten, die Sympathien für Syriens Präsidenten Assad haben dürften. Sind solch religiöse Motive denkbar?

Pick: Für vollkommen unsinnig halte ich solche Spekulationen nicht, aber man muss vorsichtig sein. Es hat mich aber sehr gewundert, dass schon kurz nach den Anschlägen ein Verdächtigenkreis beschrieben und die angeblichen Täter gefasst wurden. Das scheint mir bei der komplizierten Gemengelage in der Region problematisch.

Ich glaube, dass die Gründe für die Anschläge sehr viel vielschichtiger sind. Ein Beispiel: Die Region ist sowohl von Arabern als auch von Türken bewohnt. Viele Türken sind nicht darüber erfreut, wenn jetzt so viele arabische Flüchtlinge aus Syrien kommen. Dieser Unmut könnte sich in Anschlägen entladen - auch wenn man sich dann fragen muss, ob die so groß wie der von Reyhanli ausfallen können. In jedem Fall dürfte es ausgesprochen schwierig sein, Täter exakt auszumachen.

Zur Person
Ulrich Pick berichtete bis 2011 für die ARD aus Istanbul. Sein Berichtsgebiet umfasste neben der Türkei auch Griechenland, den Iran und Zypern. Heute arbeitet Pick in der Redaktion Religion, Kirche und Gesellschaft beim SWR in Mainz. Ein Schwerpunkt des Theologen ist dort der arabische Kulturkreis.

tagesschau.de: Der Bürgerkrieg in Syrien selbst aber scheint ja immer stärker zu einem religiösen Konflikt zu werden. Stimmt dieser Eindruck?

Pick: Ich glaube, er wird vor allem durch die syrische Opposition zum religiösen Konflikt, denn hier zeigen sich immer stärker radikalislamische, teilweise sogar dschihadistische Kräfte. Die Hintergründe sind darin zu suchen, dass die Assads - Vater wie Sohn - die sunnitische Bevölkerungsmehrheit im Land zum eigenen Machterhalt klein gehalten haben. 1982 zum Beispiel ließ Assads Vater in der Stadt Hama eine Protestaktion der Muslimbrüder niederschlagen - es gab 20.000 bis 30.000 Tote. Danach herrschte Friedhofsruhe. Das hat kein Syrer sunnitischer Prägung vergessen.

Sunniten und Alawiten in Syrien
Die große Mehrheit der Syrer sind sunnitische Moslems. Präsident Baschar al Assad gehört der Minderheit der Alawiten an, einer Konfession innerhalb der Schiiten. Assad und sein Vater und Vorgänger Hafiz al Assad besetzten in den vergangenen 40 Jahren Schlüsselpositionen mit Alawiten, sodass die Mehrheit der 22 Millionen Syrer von einer Minderheit regiert wird. Der größte Teil der Aufständischen rekrutiert sich aus den Sunniten.

Jetzt hat die sunnitische Mehrheit die Möglichkeit, die alawitische Minderheit, zu der Assad gehört, zu entmachten - und tut das mit allen Mitteln. In diesem Zusammenhang ist es sehr problematisch, dass die Aufständischen sehr viel finanzielle Unterstützung von radikalsunnitischen Ländern bekommen, etwa von Saudi-Arabien und Katar. Und dass Dschihadisten offenbar großen Einfluss haben. Insofern ist der Bürgerkrieg in Syrien inzwischen stark religiös gefärbt. 

tagesschau.de: Der türkische Premier Erdogan, selbst Sunnit, hat sich ja sehr schnell auf die Seite der Aufständischen gestellt. Welches Interesse hat die Türkei an einem Sturz Assads?

Pick: Zum einen wünscht man ganz sicher ganz pragmatisch einen ruhigen Nachbarn. Die Grenze zu Syrien ist fast 900 Kilometer lang, und es besteht die Gefahr, dass der Funke der Unruhe - in welcher Form auch immer - überspringen könnte. Dass Erdogan ein ganz konkretes politisches Interesse verfolgt, glaube ich eher nicht. Dafür war mir der Wechsel seiner Haltung zu Assad zu abrupt. Vor vier Jahren wurde noch die Freundschaft zu Assad proklamiert, heute ist er der Feind.

Da er ein Politiker ist, der sehr eigennützig denkt, setzt  Erdogan auf einen Sturz Assads, weil er sich wahrscheinlich für die Zeit danach großen persönlichen Einfluss sowie eine Führungsrolle Türkei in der gesamten Region erhofft. Er wurde ja auch lange Zeit als Vorbild gesehen, etwa als Politiker, der Demokratie, moderne westliche Lebensweise und den Islam vereinigen kann. Seine klare Positionierung im Syrien-Konflikt könnte ihm also einmal nützen, so das Kalkül. Nicht zuletzt dann, wenn die Türkei ein Präsidialsystem einführen sollte. Da könnte der neue Präsident dann schnell Erdogan heißen.

tagesschau.de: Nun ist es ja keineswegs ausgemacht, dass, sollte Assad stürzen, in Syrien gemäßigte Islamisten wie Erdogan die Macht übernehmen. Was bedeutete es für die Türkei, übernähmen Radikale die Kontrolle in Syrien?

Pick: Das wäre für die Türkei hochproblematisch. Dann hätte man möglicherweise radikalislamische Kräfte saudischer Grundfärbung direkt vor der Haustür. Das kann keiner in der Türkei wirklich wollen. Denn der türkische Islam, der ja quasi vom Staat kontrolliert wird, ist weitgehend moderat. Das heißt: Mit Blick auf Syrien muss Erdogan gleichzeitig bremsen und Gas geben. Einerseits muss er dafür sorgen, dass er wahrgenommen wird und ganz vorn steht, sollte der Konflikt in Syrien ein Ende finden. Und andererseits muss Erdogan vorsichtig agieren, denn er kann keine Dschihadisten jenseits der langen Süd-Grenze gebrauchen.

Das Gespräch führte Jan Oltmanns, tagesschau.de