Interview

Interview mit Wu Jue über den Tod ihres Sohnes "Sie haben mir verboten, am Grab zu trauern"

Stand: 04.06.2014 03:23 Uhr

Wu Xiangdong war einer der Demonstranten, die am 4. Juni 1989 in Peking getötet wurden. Seine Mutter Wu Jue wurde fortan überwacht. Doch sie kämpft für Gerechtigkeit und gegen das Vertuschen des Massakers. Im Interview mit ARD-Korrespondentin Christine Adelhardt erzählt sie, was damals passierte.

ARD: Bis heute ist nicht bekannt, wie viele Menschen am 4. Juni 1989 getötet wurden. Aber Ihr Sohn war einer von ihnen. Was geschah in jener Nacht?

Wu Jue: Mein Sohn war so jung. Er hatte einen großen Sinn für Gerechtigkeit. Im Juni '89 arbeitete er in einer Fabrik. Dort hat er unter den Arbeitern dafür geworben, sich an den Studentenprotesten zu beteiligen. Er wollte gegen Korruption protestierten. Er war so naiv. Am 3. Juni war er bis gegen fünf Uhr nachmittags auf dem Tiananmen. Dann kam er nach Hause. Gegen sieben Uhr gab das Staatsfernsehen bekannt, dass die Armee auf den Tiananmen vorrücken wird, alle sollten zu Hause bleiben. Da wussten wir: Das geht nicht gut aus. Ich habe ihn gebeten, daheim zu bleiben. Er sagte, er wolle seine Freundin nach Hause begleiten und würde gleich wieder kommen. Aber er kam nie mehr zurück.

Zur Person
Wu Jue ist Mitglied der "Mütter des Tiananmen", einem Zusammenschluss von Angehörigen der Opfer des Massakers. Ihr Sohn Wu Xiangdong wurde in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989 erschossen. Wie andere Opfer galt er als Gewalttäter und wurde kriminalisiert. Unter der Verfolgung hatte Frau Wu ihr Leben lang zu leiden. Heute steht die 75-Jährige unter strenger Polizeibeobachtung.

"Wir sahen Tote, die von Panzern überrollt worden waren"

ARD: Was geschah dann?

Wu: Mein Mann und ich haben nach ihm gesucht. Auf den Straßen war Chaos, Menschenmassen, Panzer, Armeelastwagen. Um 21 Uhr hörten wir die ersten Schüsse. Wir hatten Essen für ihn dabei. Wir hofften, er sei nur verletzt. Überall auf den Straßen wurden Verletzte und Tote zu Krankenhäusern gebracht. Wir sahen Tote auf der Straße, die von den Panzern überrollt worden waren. Wir haben in den Krankenhäusern nach ihm gesucht. Dort hingen Listen aus mit den Namen der Toten und Verletzten. Auf einer der Listen stand sein Name ganz oben. Seine Leiche lag auf dem Hof neben anderen Toten, darunter waren auch Kinder und Alte. Seine Brust war voller Blut und seine Augen noch halb geöffnet. Er lag da ruhig und friedlich. Ich habe mich auf ihn geschmissen, wollte ihn küssen und umarmen, aber sie haben mich von ihm weggezogen. Aber ich habe ihn wenigstens noch einmal berührt. Dann hat mein Mann ihm sanft die Augen zugedrückt.

ARD: Wissen Sie, wie er zu Tode kam?

Wu: Ein Freund von ihm hat mir später erzählt, dass mein Sohn zusammen mit anderen eine Menschenkette gebildet hat, um die Armee am Vorrücken zu hindern. Die Demonstranten haben sich geweigert den Weg frei zumachen. Dann wurde das Feuer eröffnet und die, die in der ersten Reihe standen, wurden getroffen. Die dahinter Stehenden haben erst nicht begriffen, was passiert. Sie glaubten immer noch, das seien lediglich Gummigeschosse. Vielleicht stand mein Sohn in der ersten Reihe. Die Kugel hat ihn vorne getroffen, ist in seinem Herzen explodiert und am Rücken ausgetreten. Nach seinem Tod habe ich in seinen Unterlagen sein Testament gefunden. Er schreibt darin, dass wir stolz auf ihn sein sollen, denn er ist für seine Überzeugung gestorben, dass jeder Bürger sich für sein Land engagieren muss, wenn die Nation ihn braucht.

"Sie haben uns unserer Würde beraubt"

ARD: Was geschah danach mit überlebenden Demonstranten und Familienangehörigen der Toten?

Wu: Wir wurden überwacht. Jede Nacht wurden Menschen einfach abgeholt. Wir haben uns nicht mal getraut, Licht anzumachen, und hatten Angst, sie würden kommen und meinen zweiten Sohn auch mitnehmen. Viele haben sich nicht gewagt zu sagen, dass ihre Kinder tot sind, sondern sagten nur, sie seien "verschwunden". Am Arbeitsplatz mussten wir an Selbstkritiksitzungen teilnehmen und aufschreiben, ob wir am Tiananmen waren und protestiert hatten. Viele meiner Nachbarn haben mich nicht mehr gegrüßt, weil ich jetzt die Mutter eines "gewalttätigen Kriminellen" war. Pekinger durften nicht aus der Stadt raus. Menschen aus anderen Provinzen nicht in die Stadt rein. Die Telefonleitungen waren stillgelegt. Sie wollten verhindern, dass die Menschen erfahren, was wirklich geschehen war, und ihr Verbrechen vertuschen.

Ein Mann steht vor einem Panzer-Konvoi.

Dieses Bild ging um die Welt: Ein einzelner Mann in weißem Hemd und schwarzer Hose, stellte sich einem Panzer-Konvoi entgegen, der die menschenleere Straße zum Platz des Himmlischen Friedens herunterfuhr. Mehrfach versuchte der erste Panzer, den Mann zu umfahren, jedes Mal stellte dieser sich ihm erneut in den Weg. Er stieg auf den Panzer, versuchte, mit der Besatzung zu sprechen, sprang wieder ab - schließlich wurde er von zwei Männern weggezogen.

ARD: Was hat das für Sie persönlich bedeutet in den vergangenen 25 Jahren?

Wu: Sie haben uns schlecht behandelt, uns überwacht, uns unserer Würde beraubt, Menschen verhaftet. Sie haben mir verboten, am Grab meines Sohnes zu trauern. Sie haben mich mit Gewalt in ein Polizeiauto gesteckt und nach Hause gebracht. Es gab Zeiten, da haben mich fünf, sechs Bewacher verfolgt, wenn ich nur zum Einkaufen ging. Es gilt einfach kein Gesetz in China.

ARD: Später haben sie sich der Gruppe "Mütter des Tiananmen" angeschlossen. Warum?

Wu: Zuerst wollte ich nur Gerechtigkeit für meinen Sohn. Aber dann ging es um mehr als nur Vergeltung. Es geht um Humanität, um Menschenrechte und Demokratie. Wir müssen nicht den Tod der Verantwortlichen fordern oder Deng Xiaoping (Deng war damals Vorsitzender der Militärkommission, Anm. der Red.) aus seinem Grab zerren. Aber wir müssen dafür sorgen, dass die ganze Welt die Wahrheit erfährt, dass es eine blutige und schreckliche Unterdrückung war.

"Mein Land leidet unter der Herrschaft einer Diktatur"

ARD: Warum geben Sie immer wieder Interviews, obwohl Sie von der Polizei unter Druck gesetzt werden und damit ein großes Risiko eingehen?

Wu: Zu allererst, weil ich meinen Sohn liebe. Er war unbewaffnet und wurde von der chinesischen Armee brutal getötet. Ich wollte danach selbst nicht mehr leben und hatte nichts zu verlieren. 25 Jahre sind seither vergangenen. Mein Land leidet seit langer Zeit unter der Herrschaft einer Diktatur, die vor dem eigenen Volk und vor der Welt ihre Verbrechen verschleiern will. Um der Gerechtigkeit willen, damit die Wahrheit bekannt wird, und weil ich meinen Sohn liebe, deswegen spreche ich.

ARD: Seit vielen Jahren schreiben die "Mütter des Tiananmen" jedes Jahr einen Brief, in dem sie die Regierung auffordern, die Geschichte aufzuarbeiten. Sie haben nie Antwort erhalten. Wie es scheint, hofft die Kommunistische Partei darauf, dass der 4. Juni '89 vergessen wird. Haben Sie dennoch Hoffnung, dass sich das einmal ändern wird?

Wu: Ja, ich habe Hoffnung, denn es geht um Gerechtigkeit und am Ende siegt immer die Gerechtigkeit. Auch wenn die ältere Generation schon gestorben ist und auch meine Generation bald sterben wird. Unsere Kinder und Freunde erinnern sich noch daran. Und die nächste Generation wächst schon ganz anders auf. Sie haben Unterstützung von allen überall auf der Welt, sie studieren, kommen herum. Geschichte kann man nicht vertuschen. Niemand kann das. Die Regierung kann den Lauf der Welt nicht aufhalten.

ARD: Warum ist der 4. Juni immer noch ein Tabu? Warum darf keiner in China darüber sprechen?

Wu: Aus Angst. Sie haben vor allem Angst, denn sie wissen, dass sie im Unrecht sind. Ich hoffe, dass dieses Jahr Regierungen anderer Länder - auch Bundeskanzlerin Merkel - uns "Mütter des Tiananmen" unterstützen werden. Dass Frau Merkel Xi Jinping überzeugen kann, sich der Geschichte zu stellen und dieses schreckliche Kapitel der chinesischen Vergangenheit hinter sich zu lassen. Ich jedenfalls werde bis zu meinem Tod dafür kämpfen.

Das Interview führte Christine Adelhardt, ARD-Studio Peking.

Das Interview führte Christine Adelhardt, ARD Peking