Mitglieder der Ehrengarde öffnen die Türen für Wladimir Putin.
Interview

Russischer Nationalismus Putins fragile "russische Welt"

Stand: 23.02.2022 06:30 Uhr

Der Kreml rechtfertigt den Militäreinsatz im Donbass mit angeblich bedrohten "Russen", die dort leben. Doch Putins Begriff, wer und was russisch ist, sei "wissenschaftlich unhaltbar", sagt Russland-Experte Schmid.

tagesschau.de: In der russischen Sprache gibt es zwei Begriffe für die Nationalität. Wann wird welcher Begriff genutzt - und von wem?

Ulrich Schmid: "Russkij", auf Deutsch "russisch", bezeichnet die russische Kultur, die russische Sprache, und "rossijskij" bezieht sich auf den offiziellen Staatsnamen und bezeichnet alles, was zum Staat ("Rossija"), zur Föderation gehört. Auf Deutsch kann man das mit "russländisch" übersetzen. Umgangssprachlich dominiert in Russland die Verwendung von "russkij" - sobald man von "rossijskij" spricht, erhält alles Gesagte eine offizielle Konnotation.

Ulrich Schmidt
Zur Person
Ulrich Schmid ist Prorektor Außenbeziehungen und Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen. Er forscht unter anderem zu Politik und Medien in Russland sowie Nationalismus in Osteuropa. Als freier Mitarbeiter publiziert er im Feuilleton der "Neuen Zürcher Zeitung".

tagesschau.de: Seit einigen Jahren prägt Russlands Präsident Wladimir Putin den Begriff der "Russkij mir", also einer russischen Welt. Was stellt er sich darunter vor? Und wer gehört dazu?

Schmid: Das hat mit der Vorstellung Russlands als einer einzigartigen Zivilisation zu tun. Moskau hat Samuel P. Huntingtons These vom "Kampf der Kulturen" freudig aufgenommen und in eine politische Handlungsanweisung abgeändert: Ja, es gibt verschiedene Zivilisationen, und ja, sie sollen aufeinanderprallen.

Dieses Selbstbewusstsein, eine eigene, nicht-westliche Zivilisation zu sein, hat zur Ausbildung entsprechender Institutionen geführt. Und die wichtigste Institution ist die Stiftung "Russkij mir", die seit 2007 besteht und zeigen soll, dass die russische Kultur weit über das Territorium der Russländischen Föderation ausgreift und identitätsstiftend wirkt.

tagesschau.de: Ist das eine Vorstellung, die Putin selbst geprägt hat oder hat er sie nur übernommen und gefördert?

Schmid: Solche Vorstellungen gibt es schon seit dem 19. Jahrhundert: Die sogenannten Slawophilen sprachen zu dieser Zeit immer wieder von einer russischen Zivilisation. Dieser Diskurs trat in der Sowjetunion dann in den Hintergrund, weil man die politische Identität nicht national, sondern sozial definieren wollte. Man propagierte einen Sowjetpatriotismus, der den Stolz auf die Zugehörigkeit zur russischen oder ukrainischen Nation mit einem sozialen Klassenbewusstsein als Arbeiter oder Bauer ersetzen sollte.

Solschenizyns "Dreifaltigkeit" der Nationen

tagesschau.de: Zu Zeiten der Sowjetunion gab es die Idee der "druschba narodow", der Völkerfreundschaft. Warum ist denn für Putin die Freundschaft zwischen verschiedenen Völkern als Bindeglied nicht gut genug; warum beharrt er darauf, dass Russen, Belarusen und Ukrainer ein Volk seien?

Schmid: Die Völkerfreundschaft bezieht sich eigentlich nicht in erster Linie auf das Verhältnis von Russen und Ukrainern, sondern galt als Verbindung ganz verschiedener Gruppen im Vielvölkerstaat Sowjetunion. Lenin setzte nach der Oktoberrevolution alles daran, ein positives Gegenbild zum Zarenreich zu schaffen. Aus kommunistischer Sicht war das Zarenreich ein Völkergefängnis und die junge Sowjetunion ein Nationalitätenparadies.

1990 flog dann auseinander, was nicht zusammengehörte. Das sowjetische Nationalitätenprogramm war gescheitert. Das entscheidende Konzept, worauf sich Putin in seinem Aufsatz "Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern" bezieht, ist die angebliche "Dreieinigkeit" der ostslawischen Völker, also der Russen, Ukrainer und Belarusen. Die religiöse Metaphorik ist natürlich bewusst gewählt. Putin führt hier die konservative Denktradition von Alexander Solschenizyn weiter, der diese ostslawische "Dreifaltigkeit" immer wieder beschworen hat.

tagesschau.de: Welche Wendung hat das Nationalverständnis in Russland in der "Ära Putin", also seit 2000 genommen? Insbesondere seit den 2010er-Jahren rückten ja Pläne zur "patriotischen Erziehung" und zu einer russischen Interpretation der Geschichte, etwa durch die "Russländische militär-historische Gesellschaft", in den Vordergrund.

Schmid: Hier muss man zwischen Anspruch und Realität unterscheiden. Der Anspruch war tatsächlich, dass man einen russländischen Patriotismus schafft, der auf einem russischen Kulturkern beruht. Dieses Projekt ist aber gescheitert: 2016 hatte Putin sogar ein Gesetz "über die russländische Nation" vorgeschlagen, das aber am Einspruch der nicht-russischen Teilrepubliken in der Russländischen Föderation scheiterte, allen voran Tatarstan und Dagestan. Sie haben sich gewehrt, weil sie ihre eigenen Kulturtraditionen gegen eine russisch-orthodoxe Dominanz verteidigen wollten.

Nächster Schritt: Eingemeindung der "Volksrepubliken"?

tagesschau.de: In Putins Rede haben wir gesehen, wie er einer anderen Nation - der Ukraine - erst die Staatlichkeit abspricht und sie dann zwei selbsternannten "Volksrepubliken" zuerkennt. Wie bewerten Sie diese Rede gemessen an Putins Verständnis, was zu "Russkij mir" gehört?

Schmid: Gestern hob er die Tradition eines einheitlichen, historischen Russlands hervor. Auch das ist eine Sprechblase, die der Kreml immer wieder bemüht: Russland verfügt über eine tausendjährige Geschichte - und die schließt natürlich auch das erste ostslawische Staatsgebilde, die Kyjiwer Rus, mit ein.

Dass er nun auch die selbsternannten "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk als Staaten anerkennt, folgt dem Muster von Südossetien und Abchasien nach dem Georgienkrieg von 2008 - und ich vermute, der nächste Schritt, den wir sehen werden, wird die Eingliederung von Donezk und Luhansk als neue Föderationssubjekte in die Russländische Föderation sein.

tagesschau.de: Die von Moskau unterstützten Machthaber im Donbass werden dort nicht als Separatisten, sondern als "Volksmilizen" bezeichnet; in den vergangenen Wochen und Tagen lanciert Moskau massiv die Falschmeldung eines angeblichen Genozids, eines Völkermordes im Donbass, der im Gange sei. Welches Volk ist da gemeint?

Schmid: Das Argument eines angeblichen Genozids kommt nicht nur in Falschmeldungen vor, sondern auch in Putins Rede: Er hat explizit den Begriff "Genozid" verwendet und auf die Lage der "Russen" im ukrainischen Donbass bezogen. Schon bei der Annexion der Krim 2014 bemühte der Kreml das Genozid-Argument: Man habe eingreifen müssen, um ein Blutvergießen zu verhindern. Putin qualifiziert die russischsprachigen Bewohner des Donbass als "ethnische Russen", die angeblich aufgrund ihrer Sprache oder Kultur vom ukrainischen Staat verfolgt werden. Das ist wissenschaftlich unhaltbar.

tagesschau.de: Wie will Putin begründen, dass auch diese beiden kleinen Territorien zu Russland gehören sollen?

Schmid: Putin hat immer wieder darauf hingewiesen, dass es angeblich Millionen von "ethnischen Russen" in der Ukraine gebe, die von einer Rückkehr in den Schoß der Heimat träumen. Als Beispiel für die Schieflage einer solchen Argumentation verweise ich auf meine eigene Situation: Man könnte ja auch mich als ethnischen Deutschen in der Schweiz bezeichnen - aber das würde natürlich meine staatsbürgerliche Identität als Schweizer völlig verfehlen. Genauso kurzsichtig und verfehlt ist es, russischsprachige Bürger der Ukraine als ethnische Russen zu bezeichnen.

"Putins größte Angst": Der Zerfall Russlands

tagesschau.de: Putin selbst leitet also sein Verständnis von Nationalität nicht trennscharf von ganz unterschiedlichen Merkmalen her: der Religion und Kultur, dem historischen Territorium Russlands, der Sprache. In der Ostukraine wiederum wird eine Zugehörigkeit der Menschen zu Russland an ihrem Pass festgemacht. Warum so diffus - und warum ist es Putin wichtig, zwei "Volksrepubliken" als souveräne Staaten anzuerkennen, wenn in seinen Augen doch am Ende alles russisch ist?

Schmid: Hier kann man einen schönen Vergleich zu Deutschland ziehen: Deutschland hat ja auch erst funktioniert, als es wirklich zu einer Föderation geworden ist. In der Zwischenkriegszeit war Deutschland preußisch dominiert - ähnlich wie in Russland heute die Russen, "russkie" dominieren. Aber anders als in Deutschland gibt es in der Russländischen Föderation Föderationssubjekte auf ganz unterschiedlichen Ebenenen, von Städten mit föderaler Bedeutung wie etwa Moskau oder Sewastopol über autonome Gebiete bis hin zu Teilrepubliken. Das Ganze ist ein relativ fragiles Gebilde - Putins größte Angst besteht darin, dass mit der Russländischen Föderation genau das passieren könnte, was mit der Sowjetunion geschehen ist: nämlich, dass sie auseinanderfällt.

Und gerade weil die Identifikation zwischen Russen und Russländern schwankt, kann der Pass ein Bindeglied sein, das mit einer staatsbürgerlichen Identität verbunden wird - ähnlich wie das entscheidende Symbol, das die Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg zusammenhielt, die D-Mark war. Ich kann mir vorstellen, dass der russische Pass eine vergleichbare Funktion übernehmen soll.

tagesschau.de: Woher kommt Putins scheinbare Obsession mit der Ukraine und den Menschen, die dort leben, wie er sie seit 2014 pflegt?

Schmid: Diese Obsession hat schon viel früher begonnen, und zwar auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008, als die NATO in einer unglücklichen Formulierung ohne Zeithorizont gesagt hat: die Ukraine und Georgien werden NATO-Mitglieder sein.

Seitdem setzt Putin alles daran, die Ukraine in den Einflussbereich der Russländischen Föderation zurückzuholen. Ein tiefer Rückschlag war für ihn der Euromaidan 2014. Die Situation, die wir damals gesehen haben - die Annexion der Krim und die verdeckte Aggression Russlands im Donbass - ist nur die zweitbeste Option für Russland. Eigentlich hatte Russland für die Ukraine den Platz als Eckpfeiler in der 2015 gegründeten Eurasischen Wirtschaftsunion vorgesehen. Damit ist es natürlich vorbei.

Putin scheint auch völlig den Kontakt zur ukrainischen Realität verloren zu haben. Er hat in den letzten Jahren immer wieder einmal angedeutet, dass es vielleicht Zeit sei für eine russisch-ukrainische Versöhnung und Annäherung. Ich denke, das wird nicht eine Frage von Jahren, sondern Generationen sein.

Das Gespräch führte Jasper Steinlein, tagesschau.de

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