Marine Le Pen und Jordan Bardella
analyse

Rassemblement National Frankreichs Wölfe im Schafspelz

Stand: 06.07.2024 13:04 Uhr

Seit Jahren versucht die französische Partei Rassemblement National, ihr rassistisches Image loszuwerden, um gesellschaftsfähig zu werden. Am Sonntag könnte sie die Wahl gewinnen. Hat sich die Partei wirklich gewandelt?

"Wir sind bei uns", skandieren die Anhänger des Rassemblement National bei einer Wahlkampfveranstaltung im Juni. Gemeint ist: "Das ist unser Land!"

Mit bebender Stimme warnt Parteichef Jordan Bardella: "Unsere Zivilisation kann sterben, weil die Migrantenflut unsere Bräuche verändert haben wird!" Das Volk habe nun die Wahl, entweder alles hinzunehmen oder denen ihre Stimme zu geben, "die das schöne und großartige Ziel verfolgen, dass Frankreich Frankreich bleibt!"

Auf einem der großen Bildschirme im Saal ist zu lesen: "Wir sind und bleiben Franzosen!" Welche Botschaft soll dieser Satz transportieren? Hélène Miard-Delacroix, Historikerin an der Sorbonne-Universität, erklärt, dass der Rassemblement National (RN) es meisterhaft verstehe, sein Publikum zwischen den Zeilen lesen zu lassen.

In den meisten Forderungen des RN gehe es um das vermeintlich echte Frankreich, um die vermeintlich echten Franzosen. "Dahinter verstecken sich Vorstellungen, die im Grunde ethno-rassistisch, ethno-national sind." Denn dieses Konzept des französischen Volkes umfasse ausschließlich weiße Franzosen, betont Miard-Delacroix.

Immigration als Grundübel

In seinem Wahlprogramm verspricht der RN, die "nationale Priorität" auf allen Ebenen einzuführen: Bestimmte Sozialleistungen sollen für Menschen ohne französischen Pass abgeschafft werden. Außerdem soll es in Zukunft schwieriger werden, die französische Staatsangehörigkeit zu beantragen. Bislang war es ein Vorteil, wenn man auf französischem Boden geboren wurde. Das sogenannte Bodenrecht ist ein Kernbestandteil der französischen Republik. Der Rassemblement will damit Schluss machen.

Außerdem hat Bardella im Wahlkampf angekündigt, alle Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft von sensiblen Posten etwa beim Geheimdienst oder in der Nuklearenergie auszuschließen. Dahinter verstecke sich die Annahme, dass alle, die familiäre Bande zu einem anderen, zumal außereuropäischen Land haben, im Grunde schlechte Franzosen seien, erklärt Jean-Yves Camus, Fachmann für Rechtsextremismus an der Stiftung Jean-Jaures, die den Sozialisten nahe steht.

Fremdenfeindlichkeit statt Rassismus

Aus der Sicht von Camus ist dieses Vorhaben ein Ausdruck der grundsätzlich fremdenfeindlichen Haltung der Partei. "Schon in der Vorgängerpartei des RN, dem Front National, gab es diesen ewigen Zweifel gegenüber 'dem Fremden', der immer im Verdacht ist, illoyal und ein Verräter zu sein", erläutert Camus. Der Kern des RN-Programms sei nicht mehr so sehr der Rassismus, sondern die Fremdenfeindlichkeit.

Hier hat die Partei eine Entwicklung durchgemacht. Während Gründervater Jean-Marie Le Pen noch erklärte, er glaube an die "Unterschiedlichkeit der Rassen", versucht dessen Tochter, die dreimalige Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen, das rassistische Image der Partei abzustreifen.

Strategie der Entdämonisierung

Der RN hat sich unter Marine Le Pen eine strenge Entdämonisierungsstrategie verordnet. Mit einem Paukenschlag schloss sie ihren Vater aus der Vorgängerpartei Front National aus. Er hatte behauptet, die Konzentrationslager der Nazis seien "ein Detail der Geschichte" und war dafür verurteilt worden.

Auch zur deutschen Partei AfD ging Marine Le Pen auf Distanz und beendete die Zusammenarbeit auf EU-Ebene, nachdem AfD-Mann Maximilian Krah die Waffen-SS verharmlost hatte.

Doch diese Verbürgerlichung an der Parteispitze ist längst nicht bei allen Parteimitgliedern angekommen. Während des Wahlkampfes wurde deutlich, dass einige der Männer und Frauen, die für den RN antreten, keineswegs die neue weichgespülte Linie der Partei verkörpern.

Französische Medien haben die rassistischen, antisemitischen und zum Teil Nazi-verherrlichenden Äußerungen einiger Kandidaten und Kandidatinnen aufgedeckt. Parteichef Bardella nannte sie lapidar "schwarze Schafe" und versprach, durchzugreifen. Doch einige dieser Kandidaten standen weiterhin zur Wahl.

Islamophobie statt Antisemitismus?

In der Tat müsse man zwischen den Parteimitgliedern und der Parteiführung unterscheiden, betont Politologe Camus. Weder Le Pen noch Bardella seien Antisemiten. Allerdings wolle der RN das Tragen der Kippa im öffentlichen Raum verbieten. Das sei ein Angriff auf die Religionsfreiheit, genauso wie das Vorhaben, das islamische Kopftuch zu verbieten.

Hat der RN seine Judenfeindlichkeit schlicht gegen Hass auf Muslime eingetauscht? Nicht offen, nicht generell, beobachtet Camus. Er verweist jedoch auf Meinungsumfragen, die belegen, dass diejenigen, die Moslems in Frankreich am feindlichsten gesinnt sind, den RN wählen.

Ist der RN rechtsextrem?

Dennoch kann der RN nach deutschem Verständnis nicht als rechtsextrem bezeichnet werden. Dieser vom deutschen Verfassungsschutz definierte Begriff beschreibt Parteien oder Gruppen, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung umstürzen wollen. Zwar nennt der französische Verfassungsrat den RN "extrem rechts", doch damit verortet er die Partei lediglich am rechten Rand des Parteienspektrums.

Camus bezeichnet den RN als rechtsnational und rechtsradikal. Zwar stelle die Partei radikale Forderungen, die etwa mit dem Gleichheitsprinzip in der französischen Verfassung kaum vereinbar seien, doch eine Gefahr für die Republik sei sie deshalb noch nicht. Den RN als rechtspopulistisch zu bezeichnen, sei wiederum verharmlosend, wenn man bedenke, dass Parteichef Bardella einer identitären Ideologie anhänge und vor der "großen Auslöschung" Frankreichs warne.

Gefahr eines Wandels zur illiberalen Demokratie

Viele Menschen in Frankreich fürchten, dass sich Frankreich unter einer RN-geführten Regierung zu einer illiberalen Demokratie nach dem Vorbild Ungarns wandeln, dass Wissenschafts- und Pressefreiheit eingeschränkt werden könnten. Den öffentlich-rechtlichen Rundfunk etwa will Le Pen privatisieren.

Doch was die Kulturpolitik anbelangt, wird man nicht so plump vorgehen wie noch in den 1990er-Jahren, prognostizieren Fachleute wie Emmanuel Négrier vom politischen Forschungsinstitut CEPEL. Damals strichen Bürgermeister und Kulturbeauftragte des RN mancher lokalen Künstlergruppe kurzerhand die Gelder, verhinderten, dass Bibliotheken kosmopolitische Bücher kauften, schlossen neue ultrarechte Zeitungsabonnements für die Büchereien ab.

Heute gehe man weniger auf Konfrontationskurs. Vielmehr sei damit zu rechnen, so Négrier, dass unter dem RN mehr Geld in den Erhalt von Monumenten, die Pflege von Traditionen, identitätsstiftende Folklore investiert würde.

Professor Miard-Delacroix warnt: "Ganz eindeutig ist der RN ein Wolf im Schafspelz. In den letzten Jahrzehnten hat die neue Leitung der Partei verstanden, dass der Weg in die Regierung nur möglich sei, wenn man sich gewissermaßen verniedlicht."

Und so hat Marine Le Pen den Rassemblement National gemeinsam mit dem nur 28 Jahre jungen Parteichef Jordan Bardella aus der Schmuddelecke geholt und zu einer Volkspartei gemacht - die mittlerweile von rund einem Drittel der Menschen in Frankreich gewählt wird.

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