Atomkraftwerk Saporischschja
Interview

Lage im AKW Saporischschja "Was man da hört, ist verheerend"

Stand: 02.09.2022 11:23 Uhr

ARD-Korrespondentin Andrea Beer berichtet aus Saporischschja über die IAEA-Inspektion im Atomkraftwerk. Sie schildert, vor welchen Schwierigkeiten die Mission steht - und dass AKW-Mitarbeiter von Gewalt durch russische Besatzer berichten.

ARD: Sie sind in der Stadt Saporischschja, etwa 50 Kilometer nordöstlich vom Atomkraftwerk. Was hören und sehen Sie von dort? Und wie sicher kann dort weiter Strom produziert werden?

Andrea Beer: Im Moment gibt es keine Meldungen über neuen Beschuss - die Ukraine und Russland weisen einander ja gegenseitig die Verantwortung für den Beschuss zu. Klar ist, dass das AKW beschädigt ist - das hat auch IAEA-Chef Rafael Grossi gestern schon gesagt, nachdem er einen Rundgang durch das Kraftwerk und die Abteilungen und Anlagen machen konnte. Er selbst ist inzwischen abgefahren, aber einige der Inspektoren sind weiterhin im russisch besetzten Atomkraftwerk vor Ort und wollen laut dem ukrainischen Energieminister German Galuschenko drei bis vier Tage dort bleiben.

ARD: Seit einem halben Jahr halten russische Truppen das Kraftwerk besetzt. Wie gehen sie dort vor?

Beer: Von vor Ort sind wir auf rein russische Quellen angewiesen - und das sind die staatlichen Propaganda-Medien, insofern müssen wir das immer mit Vorsicht genießen. Aus russischer Sicht ist es so: Sie bewachen das Atomkraftwerk, dort gibt es keine Soldaten - und die Ukrainer seien diejenigen, die dort die Probleme und den Beschuss verursachen.

Russlands Außenminister Sergej Lawrow hat vor dem Beginn der Mission gesagt, man sei bereit, alles zu zeigen. Jetzt hat sich aber schon der ukrainische Betreiber Enerhoatom geäußert und sagt: Es ist allen klar, dass das eine äußert einzigartige Mission ist - im Kriegsgebiet so ein Atomkraftwerk zu inspizieren. Aber solange dort russische Besatzung ist, könne das gar nicht klappen.

Sie haben auch ein paar Beispiele genannt: Laut Enerhoatom haben die Russen den IAEA-Leuten nicht das Krisenzentrum der Anlage gezeigt, in dem sich jetzt die russischen Soldaten befinden sollen. Oder ein weiteres Beispiel: Militärwagen würden in den Maschinenräumen von Triebwerken stehen und seien der IAEA als Ausrüstung für ganz andere Zwecke präsentiert worden.

Dann hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kritisiert, dass keine unabhängigen Medien vor Ort sind.

(Anmerkung der Redaktion: Wer als Journalist über Russland in das besetzte Territorium einreist, begeht aus ukrainischer Sicht einen illegalen Grenzübertritt.)

Es gibt also eine lange Reihe an Kritik - aber allen ist natürlich klar, dass es eine äußerst ungewöhnliche Mission ist. Die IAEA will einen Bericht schreiben und heute Abend eine Pressekonferenz in Wien geben.

"Kaum Aussicht auf Entmilitarisierung"

ARD: Wie geht die russische Besatzung mit den ukrainischen Expertinnen und Experten der Stammbesetzung vor Ort um?

Beer: Von ukrainischer Seite ist es so: Journalisten haben Kontakte zu Mitarbeitern im Atomkraftwerk, die ja meist in der Stadt Enerhodar wohnen - das ist die Stadt, die sozusagen zum Kraftwerk gehört, übersetzt heißt sie "Energiegeschenk". Was man da hört, ist verheerend. Sie sagen: Wir können nicht mehr auf die Straße, Leute verschwinden, wir werden gefoltert, wir werden geschlagen, wir werden mit Waffen bedroht im Atomkraftwerk. Erst gestern gab es noch weitere Vorwürfe eines Instituts in der Ukraine, dass sogar Frauen vergewaltigt würden.

Also es herrscht ein enormer Druck hier, wenn man diesen Aussagen Glauben schenken darf, und es ist eine äußerst schwierige Situation - denn sie sind ja seit Monaten unter dem Druck, dieses Atomkraftwerk trotz Beschusses am Laufen zu halten.

ARD: Wie weit weg ist der Atomkomplex von der aktuellen Frontlinie?

Beer: Er ist ganz in der Nähe. Die Stadt Saporischschja liegt ja ungefähr 60 Kilometer vom russisch besetzten Gebiet entfernt, alles befindet sich grob gesagt in einem Kreis von 100 Kilometern. 50 Kilometer Entfernung von der Frontlinie sind natürlich weit - aber das Gebiet ist mitten im Krieg.

ARD: Entmilitarisierung ist deshalb eine Forderung, die immer wieder erhoben wird. Gibt es aus Ihrer Sicht irgendeine Chance darauf?

Beer: Im Moment sieht das nicht so aus. Russland hat eine entmilitarisierte Zone mehrfach abgelehnt.

Von ukrainischer Seite ist stark betont worden: Diese Mission kann nicht funktionieren unter russischer Besatzung - es kann nicht sein, dass die IAEA-Experten alles gezeigt bekommen und unabhängig arbeiten können. Deshalb haben Präsident Selenskyj, Energieminister Galuschenko und die Betreibergesellschaft Enerhoatom alle gesagt: Es muss diese entmilitarisierte Zone geben, dieses Atomkraftwerk muss wieder von der Ukraine kontrolliert werden.

Weiß schraffiert: Vormarsch der russischen Armee. Grün schraffiert: von Russland unterstützte Separatistengebiete. Krim: von Russland annektiert.

Weiß schraffiert: Vormarsch der russischen Armee. Grün schraffiert: von Russland unterstützte Separatistengebiete. Krim: von Russland annektiert.

"Man kann ein AKW nicht 'umstöpseln'"

ARD: Auch wenn jetzt in wenigen Tagen die Inspekteure wieder abziehen: Welche Chancen gibt es, dass dauerhaft kontrolliert wird, dass etwa Kameras aufgestellt werden können und so weiter?

Beer: Ich glaube, momentan ist das einfach unklar. Nukleare Sicherheit muss hergestellt und es muss geklärt werden: Ist alles radioaktive Material noch da? Es darf nicht weggebracht werden. Soldaten sind in der Anlage - das ist ja auch nicht erlaubt. Zumindest müssen die Experten sich erst einmal ein Bild machen und klären: Wie wird mit dem radioaktiven Material umgegangen, den Brennelementen? Und - ganz wichtig: Ist die Stromversorgung und damit auch die Kühlung der Reaktorblöcke sichergestellt?

Vergangene Woche war das Atomkraftwerk vorübergehend vom Netz - das hat große Aufregung hervorgerufen. Und jetzt, seit dem Morgen, läuft einer der beiden aktiven Reaktoren auch nicht mehr - es ist eine hochkomplexe Situation. Und wenn man das einigermaßen unter Kontrolle haben will, muss man es vor Ort unabhängig fachlich untersuchen können.

ARD: Wie wichtig ist das Kraftwerk Saporischschja für die Ukraine?

Beer: Es ist sehr wichtig! Ungefähr die Hälfte des Stroms für die Ukraine kommt unter anderem aus diesem Atomkraftwerk, die Ukraine ist also sehr abhängig von diesem Strom. Und die große politische Befürchtung ist ja, dass Russland versuchen könnte, das Atomkraftwerk vom ukrainischen Netz abkoppeln und diesen Strom - laienhaft ausgedrückt - umleiten könnte auf die annektierte Krim oder in die besetzten Gebiete. Denn auch dort muss es ja irgendwie Strom geben. Man kann ein Atomkraftwerk ja nicht einfach "umstöpseln" - und wenn so etwas gemacht werden sollte, dann kann das sehr gefährlich werden. Ohnehin sagen die Experten: Es besteht eine große Brand- und Explosionsgefahr, es kann einen Unfall geben oder durch Beschuss noch weiteres beschädigt werden. Die Situation ist also sehr, sehr schwierig.

Das Gespräch führte Gerd Wolff, NDR Info

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