Ein Mahnmal für die ermordeten Roma in Babyn Jar

Völkermord an Roma in der Ukraine Wenig Wissen und viel Schmerz

Stand: 02.08.2023 04:05 Uhr

Heute ist der Europäische Gedenktag für den deutschen Völkermord an den Sinti und Roma. In der Ukraine wissen viele Roma nur wenig über die Verfolgung ihrer Familie während der NS-Zeit. Die Forschung ist schwierig. 

Von Andrea Beer, ARD Kiew

Laslo Djuri sitzt bei seiner Nachbarin Emilija im großen Gemeinschaftsraum ihrer Familie. "Du warst fünf Jahre alt, als du weggebracht worden bist, oder?", fragt er. "Vielleicht fünf, vielleicht vier", antwortet sie vage.

Djuri ist Vorsitzender von Romano Drom, einer kleinen Organisation in Wynohradiw im äußersten Westen der Ukraine. Die Organisation unterstützt Roma, die während der NS-Zeit verfolgt wurden. Schätzungsweise 500.000 Sinti und Roma wurden in Europa während der NS-Zeit ermordet.

Am 2. August wird europaweit daran erinnert. Erst 1982 erkannte die Bundesrepublik unter Druck den Völkermord an den europäischen Sinti und Roma an. Die meisten Überlebenden sind inzwischen gestorben. Und mit ihnen, so der agil wirkende Djuri, der selbst Mitte 80 ist, sei wertvolles Wissen verschwunden.

Eine Romni namens Emilija in der Ukraine

Wie viele Überlebende am deutschen Völkermord an den Roma hat auch Emilija nur vage Erinnerungen an das Schicksal ihrer Familie.

Schwierige Datenlage, kaum Archivmaterial

Dass Überlebende und ihre Nachkommen nichts oder fast nichts über die Verfolgung während der NS-Zeit wissen, sei typisch, sagt Artur Solotarenko. Der deutsche Völkermord an den Roma in der Ukraine sei unzureichend untersucht, und es gebe wenig Archivmaterial, so der Direktor des Museums für die Erinnerung an die Opfer von Babyn Jar in Kiew.

Deutsche Polizisten, SS-Leute, Wehrmachtsangehörige und lokale Kollaborateure erschossen dort Ende September 1941 in nur zwei Tagen mehr als 33.000 ukrainische Jüdinnen und Juden. Insgesamt ermordeten die Deutschen in Babyn Jar laut Schätzungen mindestens 100.000 Menschen. Wie viele Roma in Babyn Jar getötet wurden, sei nicht bekannt, so Solotarenko.

"Vergessen, als wäre es nie passiert"

Er steht auf dem weitläufigen Gelände der Gedenkstätte Babyn Jar vor einem mit Gewehrsalven zerschossener Planwagen aus rostendem Stahl, den geschmiedete Rosengirlanden umranken. Das Mahnmal wurde mit Spenden der Roma-Gemeinschaft errichtet und in jahrzehntelangen Auseinandersetzungen erkämpft.

Die rund zwölf Millionen Roma und Sinti seien die am meisten verachteten Menschen in Europa, konstatiert Solotarenko nüchtern. Ihre jahrhundertelange Geschichte sei bis heute von Ausgrenzung und Unterdrückung geprägt, so der 37-jährige Historiker, der selbst ein Roma ist. Auch deswegen hätten viele Zeitzeugen geschwiegen: "Sie wollten nicht, dass ihre Enkel, Kinder und Urenkel davon wissen. Sie wollten es einfach vergessen, als wäre es nie passiert."

Eine Roma-Siedlung in Uschgorod

Eine Roma-Siedlung in Uschgorod. Antiziganismus ist in der Ukraine weit verbreitet.

Systematische Ermordung

Die systematische Ermordung der äußerst heterogenen Roma-Bevölkerung fand ab Frühjahr 1942 in allen Gebieten statt, die Nazi-Deutschland besetzen konnte, sagt Michailo Tiachlyj vom Ukrainischen Zentrum für Holocaust-Studien in Kiew. Das Interview gibt er via Smartphone, denn er kämpft zurzeit an der Front.

Soweit bekannt, seien keine Roma aus der Ukraine in das deutsche Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert worden. "Dokumente zeigen, dass ein Teil der Roma-Gemeinschaft dort, wo sie gefasst wurden, für die wirtschaftlichen Bedürfnisse der deutschen Armee oder des Verwaltungsapparates zur Zwangsarbeit eingesetzt und anschließend getötet wurden."

In der Sowjetunion spielten einzelne Opfergruppen keine nennenswerte Rolle. Der Völkermord an den Roma sei zwar nicht völlig verschwiegen worden, sagt Tiachlyj. Roma seien jedoch als Fremde außerhalb der Mehrheitsgesellschaft dargestellt und in Folge für ihre eigene Verfolgung verantwortlich gemacht worden.

Mit der Unabhängigkeit der Ukraine hätten dies vor allem die Roma-Organisationen der Zivilgesellschaft verändert, aber auch die staatliche Erinnerungskultur. "In der postsowjetischen Erinnerungskultur wird Opfern, die nur aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit zum Tode verurteilt waren, viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt, also auch den Roma."

Wolodymyr Jakowenko

Der russische Angriffskrieg habe die Gesellschaft zwar zusammengeschweißt, doch Antiziganismus in der Ukraine sei keineswegs überwunden, sagt Wolodymyr Jakowenko.

Geschichte des Völkermords eint

"Stimmen, die Namen haben", so heißt ein ukrainisches Dokumentar-Theaterstück, das zum Gedenktag am 2. August entstanden ist. "Ich möchte nicht, dass die Geschichte meiner Familie vergessen wird", sagt Laienschauspieler Wolodymyr Jakowenko aus Krementschuk, dessen Großvater von den Deutschen erschossen wurde. Er leitet die Roma-Jugendorganisation Arka. Die Roma in der Ukraine seien eine heterogene Gruppe, betont er. Aber die Geschichte des Völkermords eine sie.  

Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen die Ukraine aufgrund des geltenden Kriegsrechts nicht verlassen, doch für die Premiere im polnischen Krakau hat Jakowenko eine Ausnahmegenehmigung. Sein Vetter und viele weitere Roma kämpfen in der ukrainischen Armee, was auch in der Gesellschaft wahrgenommen wird.

Antiziganismus sitzt tief

Der russische Angriffskrieg habe die Gesellschaft zwar zusammengeschweißt, doch Antiziganismus in der Ukraine sei keineswegs überwunden, so Jakowenko. Stereotype und Diskriminierung von Roma seien nach wie vor ein Problem. Der Antiziganismus sitzt tief, und auch Museumsdirektor Solotarenko formuliert zurückhaltend: "Ich denke, dass die Menschen ein bisschen toleranter sein werden."

Der russische Angriff auf die Ukraine sollte die Gesellschaft veranlassen, sich an den deutschen Völkermord an den Roma zu erinnern, empfiehlt Tjachlyj vom Ukrainischen Zentrum für Holocaust-Studien. "Je besser die Menschen in der Ukraine die Tragödien der Vergangenheit kennen, desto besser können wir erklären, was uns heute passiert", sagt er. "So finden wir einen besseren Weg, die russische Aggression abzuwehren."

Nach seinem Besuch bei Emilija fährt Laslo Djuri nach Pyjterfolwo, um einer alten Romni Lebensmittel und eine Jacke zu bringen. "Ich lebe schlecht", krächzt die magere Frau, die sich eine dicke Lupe vor das linke Auge hält. Soweit sie wüssten, sei sie als Kind verschleppt worden, sagt Djuri. Auch ihre Verfolgungsgeschichte bleibt verschwommen. So wie die von vielen Roma, deren Familien durch den deutschen Völkermord in der Ukraine ausgelöscht wurden.

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