Der Rest einer Streumunition ist nach einem Angriff im Norden Syriens zu sehen.
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Streumunition für die Ukraine? Heimtückische Waffen - auch nach Kriegsende

Stand: 07.07.2023 14:24 Uhr

Die USA erwägen, der Ukraine Streumunition zur Verfügung zu stellen. Dies folgt der Eskalationslogik des Krieges - und entsetzt diejenigen, die seit langem für die Ächtung dieser Art von Munition kämpfen. Dazu gehören auch enge Partner der Ukraine.

Die Debatte über den Einsatz von Streumunition in der Ukraine ist nicht neu. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International berichten schon seit dem vergangenem Jahr, dass Russland die Ukraine mit den geächteten Waffen beschießt.

So warf Amnesty den russischen Streitkräften im vergangenem Sommer vor, in der Stadt Charkiw durch den Einsatz von Streumunition zahlreiche Zivilisten getötet zu haben, "während sie mit ihren Kindern Spielplätze besuchten, auf Friedhöfen ihrer Angehörigen gedachten, beim Anstehen für Hilfslieferungen oder beim Einkaufen".

Russland, so Amnesty in einem Bericht weiter, setzte die Munition bereits seit Beginn des Krieges im Februar 2022 ein - die Organisation hält das für ein Kriegsverbrechen. Die NGO "Cluster Monitor Coalition" schreibt, nach Kriegsbeginn seien allein in der ersten Hälfte des vergangenen Jahres mindestens 689 Ukrainer durch Streumunition getötet worden - und vermutlich läge noch eine große Menge unentdeckter Bomben in der ukrainischen Erde.

Allerdings hat auch die Ukraine möglicherweise Streumunition eingesetzt - aus alten sowjetischen Beständen, wie der Fachjournalist Thomas Wiegold auf tagesschau24 sagte. Deren Menge sei aber begrenzt.

Munition mit Langzeit-Wirkung

Dass vor allem Zivilisten durch Streumunition sterben oder verstümmelt werden, oft auch noch lange nach Ende des jeweiligen Konflikts, steht seit jeher im Zentrum der Kritik an den Waffen. Streumunition wird aus der Luft oder vom Boden aus mit Raketen oder Bomben verschossen, die in der Luft bersten. Dadurch werden viele kleine Sprengkörper freigesetzt, die sich auf großer Fläche verteilen, damit sie möglichst viele Ziele treffen. Nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen soll es mehr als 200 verschiedene Arten von Streumunition geben.

Oft explodieren sie aber nicht und bleiben als Blindgänger eine Gefahr für die Menschen in der Region - auch weil sie, zumal für Kinder, nicht als gefährliche Bomben zu erkennen sind und für Spielzeug gehalten werden können. Nach Angaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz produzieren einige Arten von Streumunition bis zu 40 Prozent Blindgänger.

Ein Abkommen mit vielen Unterzeichnern ...

Deshalb galt es als großer Erfolg, dass 2008 das sogenannte Oslo-Übereinkommen vereinbart wurde - international unter dem Kürzel CCM bekannt ("Convention on Cluster Munition"). Es verbietet den Einsatz, die Entwicklung, die Produktion, die Lagerung und die Weitergabe der Streubomben.

Außerdem unterstützen die Vertragsstaaten Länder, in denen große Flächen vom Einsatz von Streumunition betroffen sind - wie zum Beispiel Laos und Vietnam, die weltweit als die Staaten gelten, die am stärksten von Streumunition betroffen sind - Jahrzehnte nach dem Ende des Vietnam-Krieges. Auch bemühen sich die Vertragsstaaten, andere Staaten von einem Verbot der Streumunition zu überzeugen.

Mehr als 100 Staaten traten in den Jahren danach dem Abkommen bei, das 2010 in Kraft trat. Deutschland gehörte zu den Gründungsmitgliedern der CCM.

... und Nicht-Unterzeichnern

Allerdings sind wichtige Staaten der CCM nicht beigetreten - Russland, China, Saudi-Arabien, der Iran, Brasilien und Argentinien, und auch nicht die USA. Auch in der EU haben sich längst nicht alle Staaten der Übereinkunft angeschlossen - Finnland, Rumänien, Griechenland, Polen, Lettland und Estland gehören zu den Nicht-Unterzeichnern.

Einige dieser Staaten sind, wie Russland, Kriegspartei - außer- oder innerhalb ihrer Grenzen. So soll es im syrischen Bürgerkrieg immer wieder zum Einsatz von Streubomben gekommen sein, insbesondere seitdem Russland den syrischen Machthaber Assad unterstützte. Und im Jemen soll Saudi-Arabien wiederholt Streumunition eingesetzt haben.

Die Ukraine drängt schon lange

Die Ukraine ist ebenfalls kein Unterzeichnerstaat und drängt seit Monaten darauf, solche Waffen zu bekommen - weil Russland sie einsetze. Der ukrainische Vizeregierungschef Olexander Kubrakow sagte bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar, sein Land sei keine Vertragspartei des Oslo-Übereinkommens. Deshalb gebe es für sein Land keine rechtlichen Hindernisse.

Die Ukraine werde Streumunition "ausschließlich gegen die Streitkräfte der Russischen Föderation" einsetzen, zitierte die Nachrichtenagentur dpa im Februar den Vize-Regierungschef.

Ähnlich äußerte sich Yehor Cherniev, Abgeordneter und stellvertretender Vorsitzender des Komitees für Nationale Sicherheit. Er verwies auf die russische Überlegenheit bei der Munition und die begrenzten Möglichkeiten des Westens - hier wären Streubomben für die Ukraine ein effektives Gegenmittel. Die Ukraine würde sie zudem anders und gezielter als Russland einsetzen, das Streumunition gegen Städte und die Zivilbevölkerung einsetze.

Auf der Sicherheitskonferenz handelte sich Kubrakow allerdings zunächst eine Abfuhr ein. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg stellte klar, die NATO habe diese Art von Waffen "weder empfohlen noch geliefert", und um jeden Zweifel auszuräumen betonte er: "Wir liefern Artillerie und andere Arten von Waffen, aber keine Streubomben."

"Schleppende" Munitionslieferungen des Westens

Militärexperten wie Thomas Wiegold äußern jedoch Verständnis für die ukrainische Forderung. Der Westen liefere Munition "schleppender" als von der Ukraine gewünscht und als für sie erforderlich sei, sagte Wiegold auf tagesschau24. Eine Lieferung von Streumunition würde den Vorstoß der Ukraine in der laufenden Offensive erleichtern, denn sie könne nicht nur gegen Infanterie eingesetzt werden, sondern auch gegen geschützte und gepanzerte Ziele wie russische Transporte oder Konvois.

Frank Sauer von der Bundeswehr-Universität in München schrieb auf Twitter, Putins Angriffskrieg beschwöre ein Dilemma herauf. Der Einsatz von Streumunition seitens Ukraine würde einerseits der Völkerrechtsordnung Schaden zufügen. Andererseits sei es nicht verwerflich, dass die Ukraine diese Forderung erhebe, weil das Land ums Überleben kämpfe, es ohnehin schon mit Minen und Streumunition voll sei und diese Waffen die zahlenmäßige Unterlegenheit der Ukraine bei Artilleriesystemen und Munition teilweise ausgleichen würden.

Die Gespräche laufen schon länger

Die USA scheinen nun zur Lieferung bereit. Gespräche über eine Lieferung soll es bereits seit Monaten geben, und in der vergangenen Woche machte Generalstabschef Mark Milley entsprechende Überlegungen öffentlich. Die USA dächten schon "seit einer langen Zeit" über eine Lieferung von Streumunition nach, zitierte die Nachrichtenagentur AP aus einer Rede Milleys im nationalen Presseclub.

Bei den Republikanern, die der umfangreichen Militärhilfe für die Ukraine in Teilen skeptisch gegenüberstehen, fand dies Zuspruch. Michael McCaul, Vorsitzender des Ausschusses des Repräsentantenhauses für auswärtige Angelegenheiten, erklärte daraufhin, der Schritt sei lange überfällig.

Die USA sollen ein großes Arsenal an Streubomben haben, in einem Brief von US-Politikern an Präsident Joe Biden vom vergangenen März sei die Rede von bis zu drei Millionen Stück, schreibt die Nachrichtenagentur AP. Die USA hatten Streumunition zuletzt im Krieg gegen die Taliban in Afghanistan Anfang der 2000er-Jahre und zu Beginn des Irak-Kriegs im Jahr 2003 eingesetzt.

Kaum noch Blindgänger?

Noch liegt ein Beschluss offiziell nicht vor. Aber das US-Verteidigungsministerium bemühte sich, etwaiger Kritik an der Heimtücke der Waffen umgehend entgegenzutreten. Pentagon-Sprecher Pat Ryder erklärte, die USA hätten "mehrere Varianten der Munition" in den Beständen.

Darunter seien "keine alten Varianten mit einer Quote an Blindgängern von mehr als 2,35 Prozent". Und er versprach, die USA würden, sollten sie der Ukraine tatsächlich diese Waffen liefern, "sorgfältig Munition mit niedrigeren Blindgängerraten auswählen".

Die Kritiker überzeugt das nicht. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock lehnte die Lieferung von Streumunition an die Ukraine ab und verwies darauf, dass für die Bundesregierung das Osloer Abkommen gelte.

Das UN-Menschenrechtsbüro in Genf erklärte, der Einsatz von Streumunition sollte "umgehend gestoppt werden" und appellierte an die USA und Russland, der CCM beizutreten.